Wo die Gratiszahnspange klemmt

Seit Juli vorigen Jahres gibt es die Gratiszahnspange für Kinder und Jugendliche. Die Wiener Zahnärztekammer zieht nach dem ersten Jahr eine sehr kritische Bilanz: Das neue System sei insgesamt ungerecht.

Knapp über 3.300 Gratiszahnspangen wurden in Wien bis Ende März bewilligt, geht aus den Zahlen der Wiener Gebietskrankenkasse (WGKK) hervor. Bei einer dreijährigen Behandlungsdauer mit einer festsitzenden Zahnspange ersparen sich die Eltern so rund 5.000 Euro. Das sei zwar durchaus positiv, habe aber eine bittere Kehrseite, sagte Claudius Ratschew, Vizepräsident der Wiener Zahnärztekammer, gegenüber Radio Wien.

Fünfstufige Skala

Kieferorthopäden beurteilen eine Zahnfehlstellung mit Bildern, Abdruck und Lineal. Sie wird bei Kindern und Jugendlichen bis 18 nach einem in Großbritannien vor rund 30 Jahren geschaffenen Index zur Einschätzung der Behandlungsnotwendigkeit abgebildet: der fünfstufigen IOTN-Skala.

Mehrheit geht leer aus

Denn die Gratiszahnspange werde - zumindest in Wien - nur in ganz schweren Fällen gezahlt, so Ratschew. Konkret dann, wenn die Zähne eine Mindestabweichung von der idealen Zahnstellung aufweisen - im Schweregrad der Stufe vier oder fünf auf der fünfstufigen IOTN-Skala. Laut Ratschew handelt es sich um eine „ganz winzige Minderheit“, bei der so erhebliche Fehlstellungen vorlägen. Die andere, „viel größere Gruppe“ bekomme im Gegensatz zu früher meist gar keine Zuschüsse mehr.

Laut der Wiener Zahnärztekammer werden derzeit nur zwei, drei Prozent der Anträge auf abnehmbare Zahnspangen bewilligt. „Alle anderen werden kategorisch abgelehnt“, so Ratschew. Vor Einführung der Gratiszahnspangen hätten hingegen alle Kinder, die eine Zahnspange brauchten, auch einen Zuschuss bekommen.

„Zweiklassenmedizin geschaffen“

Vor allem bei der IOTN-Fehlstellung der Stufe drei spießt es sich: Laut Ratschew ist diese dritte Stufe „genauso medizinisch behandlungsbedürftig“ und „keineswegs ein ästhetisches Problem“. Das scheinen auch manche Kassen anderer Bundesländer so zu sehen - zumindest teilweise. Es gebe hier bei den anerkannten Leistungen ein West-Ost-Gefälle, hieß es unlängst aus dem Verband der Österreichischen Kieferorthopäden.

„Ich verstehe überhaupt nicht, wie man gerade Kindern eine medizinische Behandlung vorenthalten kann, die nur in einem bestimmten Alter möglich ist“, beklagt Ratschew. Und weiter: Die WGKK habe bewusst eine „Zweiklassenmedizin geschaffen“, über die sie normalerweise schimpfe.

Kassen müssen Hälfte der Kosten tragen

Wie viele Eltern, deren Kinder keinen Anspruch auf eine Gratiszahnspange haben, sich angesichts der nun höheren Kosten gegen eine Regulierung der Zähne ihrer Kinder entscheiden, ist nicht bekannt. Viele Zahnärzte berichteten laut Kammer aber von solchen Fällen. Eigentlich sind die Krankenkassen vertraglich dazu verpflichtet, die Hälfte der Behandlungskosten bei herausnehmbaren Zahnspangen zu tragen. Das sind derzeit 434 Euro pro Jahr. Der Patient habe auf diese Leistung Anspruch, so Ratschew: „Entweder lässt sich der Patient das gefallen oder er geht auf dem Rechtsweg dagegen vor.“ Einen Präzedenzfall gibt es dafür allerdings - noch - nicht.

WGKK: Früher „große Unschärfen“

Jeder Fall müsse im Sinne der Qualitätssicherung begutachtet und geprüft werden, heißt es in einer Stellungnahme der WGKK gegenüber Radio Wien. Die Krankenkasse komme den Vorgaben des Gesetzgebers nach. „Bis zum 1. Juli 2015 hat der Vertrag große Unschärfen zugelassen“, heißt es.

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