Kopfschussprozess: Überraschendes Gutachten

Vor einem Mordprozess um einen Kopfschuss, der am Montag in Wien beginnt, bringt ein Gutachten nun eine mögliche überraschende Wende. Der Angeklagte, der sich selbst stellte, war diesem zufolge möglicherweise gar nicht der Schütze.

Der 28-Jährige steht ab Montag vor Gericht, weil er am 16. April 2017 in der Jägerstraße in Wien-Brigittenau einen Bekannten per Kopfschuss vorsätzlich getötet haben soll. Unmittelbar danach war er damals von einem Bekannten in eine ein paar hundert Meter entfernte Polizeiinspektion chauffiert worden, wo er sich stellte. Er sprach von einem Schießunfall - mehr dazu in Mann nach Streit auf dem Gehsteig erschossen und in Kopfschuss in Brigittenau: Mordanklage.

Angeklagter: Schuss durch Stoß gelöst

Der vorsitzende Richter Georg Olschak gab ein Gutachten beim ballistischen Sachverständigen Ingo Wieser in Auftrag. Die Staatsanwaltschaft hatte darauf verzichtet. Wiesers Expertise zufolge kann die Darstellung des 28-jährigen Kosovaren, wie es zu dem Schuss kam, nicht stimmen.

Gegenüber der Polizei hatte er behauptet, er sei vom 26-jährigen Getöteten im Zuge einer Aussprache um eine Frau angegriffen worden. Sowohl er als auch der Getötete hätten beide ein Verhältnis mit ihr gehabt. Um den Angriff abzuwehren, habe er dem 26-Jährigen mit seiner Pistole auf den Kopf geschlagen. Dabei habe sich unabsichtlich ein Schuss gelöst, weil ihm sein Kontrahent die Hand wegstieß. Bei dem 26-Jährigen handelt es sich um einen Mann mit bosnischen Wurzeln, der sich in einem kriminellen Umfeld bewegt haben soll.

Schuss laut Gutachten aus größerer Entfernung

Für Wieser, der die Tatwaffe eingehend untersucht und auch Falltests durchgeführt hat, ist eine Schussauslösung durch einen Schlag „mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit auszuschließen“. Der Sachverständige kommt zu dem Schluss, dass der Schuss aus einer Entfernung von mindestens eineinhalb Metern abgegeben wurde, wobei Wieser davon ausgeht, dass das Opfer zum Zeitpunkt der Schussabgabe am Boden lag, seinen rechten Arm abwehrend hob und der vor ihm stehende Schütze schräg nach unten feuerte.

Am Gewand des Angeklagten, das dieser am Tatort trug, konnten keine Schmauchspuren gefunden wurden. Das zeigte eine kriminaltechnische Analyse, die ebenfalls vom Hauptverhandlungsrichter veranlasst wurde. Versuche mit der sichergestellten Pistole ergaben „auch bei unterschiedlichen Waffenhaltungen und Anschlagsarten eine signifikante Beschmauchung von charakteristischen Schusspartikeln auf den Händen und am Gewand des Schützen“, heißt es im Gutachten.

Zwei unbeteiligte Zeugen

Wiesers Fazit: „Falls der Angeklagte das untersuchte Gewand bei der Tat getragen hat, konnten keine sicheren Anhaltspunkte für eine Schussabgabe nachgewiesen werden.“ Nachdem sich der 28-Jährige unmittelbar nach dem Schuss gestellt hatte, hatte er jedoch vermutlich keine Zeit, seine zuvor getragene Kleidung zu wechseln.

Unmittelbar am Tatort hatten sich neben dem 28-Jährigen mehrere andere Männer befunden. Das Geschehen wurde von zwei völlig unbeteiligten Zeugen beobachtet, die in ihren polizeilichen Befragungen die Version des Mordverdächtigen stützten. Allerdings waren beiden 40 bis 50 Meter und damit doch erheblich entfernt, als der Schuss fiel. Ob sie tatsächlich den Angeklagten beim Hantieren mit einer Schusswaffe beobachtet hatten, ist unklar - bisher gab es keine Gegenüberstellung.

Anwalt: „Einer der ungewöhnlichsten Prozesse“

Die Verteidiger des Angeklagten, Philipp Wolm und Werner Tomanek, besprachen mit diesem selbstverständlich das Gutachten. „Er hat es zur Kenntnis genommen“, meinte Tomanek am Freitag. Auf die Fragen, ob das etwas an der Verantwortung des Mannes ändere und ob der 28-Jährige womöglich den tatsächlichen Schützen decke, verwies Tomanek in Anlehnung an Karl Farkas auf die Verhandlung am Montag: „Kommen Sie, schauen Sie sich das an.“

Es handle sich mit Sicherheit „um einen der ungewöhnlichsten Prozesse, in dem ich je vertreten habe“, so Tomanek. Normalerweise hätten Gerichte „ja Täter zu überführen, die sagen, dass sie’s nicht waren. Hier habe ich einen angeblichen Täter, der sich freiwillig stellt und wo sich dann herausstellt, dass er es wahrscheinlich nicht war.“

Dass die Anklagebehörde in diesem Fall von Mord ausgeht, „ohne ordentlich ermittelt zu haben“, ist für Tomanek schwer zu fassen. „Bei viel problematischeren Fallkonstellationen, etwa bei polizeilichem Waffengebrauch, wäre man bei so einer Beweislage nie auf die Idee gekommen, eine Anklage wegen Mordes zu erheben. Da hätte man wahrscheinlich einen Strafantrag wegen fahrlässiger Tötung unter besonders gefährlichen Verhältnissen eingebracht“, bemerkte Tomanek.