Lendvai: Ein Verlag aus Überzeugung

Paul Lendvai und seine Frau Zsoka haben einen Verlag gegründet. Im wien.ORF.at-Interview sprechen sie über die Versuchung der Macht, schlechte Restaurants und darüber, welche Werte sie dem Leser „aufdrängen“ wollen.

wien.ORF.at: "Dem Publikum neue Werte aufzudrängen, die es nicht will, ist die wichtigste und schönste Mission des Verlegers.“ Dieses Zitat von Samuel Fischer, dem Gründer des deutschen S. Fischer-Verlages, sticht auf der Website Ihres neu gegründeten Verlages sofort ins Auge. Welche Werte wollen Sie den Lesern denn gegen ihren Willen aufdrängen?

Zsoka: (lacht) Dieses Zitat ist natürlich sehr gewagt. Viele unserer Freundinnen und Freunde haben uns gefragt: „Habt Ihr das ernst gemeint? Das ist schon ein bisschen frech.“

Paul: Samuel Fischer war ja ein Jude aus dem ehemaligen Oberungarn. Er wurde in einer dieser unaussprechlichen Ortschaften geboren, bevor er in Berlin seinen Verlag gegründet hat, der zum wichtigsten für deutschsprachige Literatur wurde. Das Zitat habe ich in seinen Memoiren gefunden. Ein kleiner Verlag muss interessant sein, deshalb wollten wir natürlich etwas, das „Bang“ macht und sofort für Aufmerksamkeit sorgt.

Zsoka: Es ist gelungen, oder?

Paul und Zsóka Lendvai

ORF

Zsoka und Paul Lendvai in ihrem Wohnzimmer in Wien-Alsergund

wien.ORF.at: Ja, ist es.

Paul: Aber was die Werte angeht: Wir wollen das Humane vertreten – das Menschliche und das Schöne. Wir wollen aber auch das Böse zeigen. Und zwar im Spiegel der besten Schriftsteller, die noch nicht weltberühmt sind. Zsoka ist eine sehr erfahrene Verlegerin und ich war als Autor immer auf der anderen Seite. Das ist eine gute Kombination.

Zsoka: Es ist mit ihm nicht einfach, aber ja (lacht).

Paul: Wir haben uns ja auch über unsere Arbeit kennengelernt. Zsoka hat damals für einen großen Verlag ein Buch von mir lektoriert und die Präsentation in einer großen Buchhandlung gemacht. Sie hat mich dann in ein schlechtes Restaurant geführt…

Zsoka: Pauli!

Paul: Es war wirklich schlecht. Aber das hat die Entstehung unserer Beziehung nicht beeinträchtigt.

Zsoka: Der erste Schritt war aber, dass ich Pauls Manuskript gelesen habe und sehr viele Fehler gefunden habe (lacht).

Paul: Ich glaube, wir haben für heute schon genug Indiskretionen verraten. Also: Hier am Tisch liegen die ersten drei Bücher – damit Sie auch sehen, dass sie wirklich existieren.

wien.ORF.at: Man liest gerade überall vom „Verlagssterben“, E-Book-Reader und Bücher im Digitalformat gewinnen ständig Marktanteile. Trotzdem gründen Sie gerade jetzt einen klassischen Buchverlag. Mögen Sie den Nervenkitzel?

Paul: Ja (lacht). Die Leute lesen angeblich nicht mehr, die großen Verlage fressen die kleinen und so weiter. Es gibt allerdings trotzdem immer noch viele und interessante Kleinverlage. Aber natürlich ist unser „Nischen Verlag“ ein Experiment. Wir sind wie ein kleines Motorboot zwischen den großen Schlachtschiffen.

Veranstaltungshinweis:

Die beiden Herbsttitel des Nischen Verlages, „Der Verruf“ von György Spiro und „Der wogende Balaton“ von Lajos Parti Nagy, werden am 4.Oktober im Literarischen Quartier Alte Schmiede präsentiert.

Zsoka: Es ist uns sehr wichtig, dass wir klein bleiben. Wir wollen nicht mehr als zwei, drei Bücher pro Jahr veröffentlichen, denn dadurch haben wir mehr Zeit, uns den Autoren zu widmen.

Paul: Das heißt, wir lesen die Manuskripte auch wirklich (lacht). Und wenn ich das sagen darf: Meine Frau war als Verlegerin sehr bekannt in Ungarn. Und die ungarischen Medien haben ausführlich darüber berichtet, dass es jetzt in Wien einen „Lendvai-Verlag“ gibt.

Zsoka: Wir haben dadurch natürlich etliche Manuskripte bekommen – mehr als 30. Es ist dann sehr schwierig: Man muss stark bleiben und auch nein sagen. Man kann nicht jedes Manuskript veröffentlichen – auch wenn das Herz blutet. Denn große Verlage haben eigene Lektoren, eigene Übersetzer und eigene Designer. Wir sind nur zu zweit.

Paul: Wir sind Mädchen für alles.

wien.ORF.at: Sind schwarze Zahlen nebensächlich, wenn man dem Publikum wie Samuel Fischer „neue Werte aufdrängen“ will?

Paul: Wir wollen wenig, aber dafür ungewöhnliches veröffentlichen – solange wir die Luft und das Geld dazu haben. Unser Ziel ist nicht Profit, unser Ziel ist es, die Verluste zu minimieren (lacht). Immerhin: Wir nehmen von niemandem Brot, wir wollen Brot geben.

Mein Problem ist nur: Meine Frau war in Ungarn bei großen staatlichen Verlagen und deshalb will sie Honorare immer sofort überweisen. Ich hingegen bin nur ein privater Investor und sage oft: „Warte doch noch ein paar Wochen, zumindest bis das Buch erschienen ist.“ Das ist der Unterschied zwischen privater und staatlicher Wirtschaft. Meine Frau sagt aber, dass sie auch die Privatwirtschaft noch lernen will.

Ein bisschen Geld hat man sich aber im Laufe der Jahre erspart. Und davon müssen wir keine große Schiffsreise in die Karibik machen, sondern wir können damit Honorare zahlen – für den Druck, für das Lektorat und vor allem für die Übersetzer. Die sind besonders wichtig! Ich weiß das, denn ich habe keines meiner Bücher selbst übersetzt und nicht immer waren alle Übersetzungen ausgezeichnet. Die japanischen oder slowakischen konnte ich aber nicht kontrollieren.

Zsóka Lendvai

ORF

Zsoka Lendvai in der Zentrale des Nischenverlages - ihrem Arbeitszimmer

wien.ORF.at: Ist es Ihnen ein bewusstes Anliegen, die Geschichte und politische Situation der ungarischen Nachbarn in Österreich besser verständlich zu machen?

Zsoka: Unser Ziel ist natürlich, mindestens weltberühmt zu werden (lacht). Ja, die Nachbarn Österreich und Ungarn sollen sich besser kennenlernen. Trotz der langen gemeinsamen Geschichte weiß man sehr wenig voneinander.

Paul: In Österreich sagt man: Ungarn hat die Monarchie zerstört. In Ungarn sagt man: Die Monarchie hat Ungarn ausgebeutet. Ein amerikanischer Historiker hat einmal gesagt: „Eine Nachbarschaft ist noch keine Garantie für gute Nachbarschaft.“ Und sie ist natürlich auch keine Garantie dafür, dass man einander kennt. Kaiserin Sisi ist manchmal das einzige Bindeglied.

wien.ORF.at: Die erste Veröffentlichung Ihres Verlages erzählt vom Leben eines 13-jährigen jüdischen Mädchens, das im damaligen Ungarn von den Nazis verfolgt wird. Im zweiten Buch geht es um einen Mann während des Ungarn-Aufstandes. In beiden Geschichten gibt es Parallelen zu Ihrer eigenen Biografie.

Paul: Ja, meine eigene Geschichte hat natürlich eine Rolle dabei gespielt, dass ich diese ersten beiden Veröffentlichungen wollte. Eine Geschichte, wie sie in „Das rote Fahrrad“ erzählt wird, habe ich als Kind selbst erlebt. Ich hätte selbst so ein Buch schreiben können – deshalb hat mich die Geschichte am Herzen gerührt. Ich habe die Auswahl der ersten zwei Bücher unseres Verlages also zweifellos sehr stark beeinflusst.

wien.ORF.at: Das Schicksal im zweiten Buch haben Sie nicht mehr unmittelbar selbst erlebt, denn Sie konnten im Zuge des Ungarn-Aufstandes 1957 nach Wien flüchten.

Paul: Ja, denn ich wollte nicht mit der Lüge leben. Aber ich kannte die Menschen, die damals dort blieben und deshalb konnte ich auch beim zweiten Buch die Authentizität der Erzählung spüren und nachvollziehen.

wien.ORF.at: Gibt es einen Zeitpunkt, zu dem man diese Themen aus der eigenen Lebensgeschichte lieber ruhen lässt?

Paul: Eigentlich nicht. Es besteht aber grundsätzlich kein Plan, dass wir Bücher veröffentlichen, die mit meinen eigenen Erfahrungen zu tun haben. Alle Bücher behandeln allerdings die Gesellschaft und menschliche Schicksale. Wir veröffentlichen keine politischen Sachbücher, aber gute Literatur kann und muss politisch sein. Es macht mir jedenfalls Spaß, auf der anderen Seite zu stehen und mich mit den Geschichten anderer Menschen zu beschäftigen. Es ist, als hätte ich in die gegnerische Fußballmannschaft gewechselt.

wien.ORF.at: Sie sind ein scharfer Kritiker der rechtskonservativen Regierung Viktor Orbans in Ihrer alten Heimat Ungarn. Wie ist es aus Ihrer Sicht dazu gekommen, dass ausgerechnet in einem Land, das einst Pionierarbeit für demokratische Reformen in Osteuropa leistete, ein Premier an die Macht kam, dem sie autokratische Tendenzen vorwerfen?

TV-Hinweis:

Die Dokumentation „Nationale Träume - Ungarns Abschied von Europa?“ von Paul Lendvai und Andrea Morgenthaler gibt es hier zum nachsehen.

Paul: Die Geschichte zeigt, wie schwierig es ist, nach den Jahrzehnten der Diktatur einen Neuanfang zu schaffen. Es ist auch ein Lehrbeispiel für die totalitäre Versuchung, die Versuchung der Macht. Es zeigt sich, wie kompliziert eine Öffnung ist und dass Rückschläge immer wieder möglich sind. Vor allem wird deutlich, wie wenig man die Vergangenheit, die Geschichte, die Verbrechen aufgearbeitet hat.

Genau das ist aber auch Teil der Aufgaben eines Verlages. Natürlich kann man mit Büchern nur Einblicke in die ungarische Wirklichkeit geben – es ist nie die ganze Wirklichkeit. In Ungarn zeigt sich derzeit auch, dass eine Entwicklung hin zu einer echten Demokratie viel länger dauert, als man das beim Zusammenbruch der Sowjetunion angenommen hat.

Es dauerte aber auch im Westen viel länger, die Vergangenheit aufzuarbeiten, als man vorher geglaubt hat. Der französische Staatspräsident François Hollande hat gerade erst vor kurzem eine große Rede bei einem Konzentrationslager gehalten, bei der er auch die Schuld der Franzosen während der Zeit des Nationalsozialismus eingestanden hat. Das ist alles Teil unserer komplizierten Wirklichkeit.

wien.ORF.at: Wohin wird sich Ungarn in den nächsten Jahren entwickeln? Geben Sie nach all den Jahren als politischer Journalist noch Ausblicke?

TV-Hinweis:

Paul Lendvai war zu Gast im „Club 2“ zum Thema „Ungarn: Demokratie ade?“. Die Sendung können Sie hier nachsehen.

Paul: Nein, kein Ausblick, ich lasse das offen. Ein kluger Kopf hat einmal gesagt: „Es gibt mehrere Versionen der Geschichte.“ Auch für Ungarn ist es noch zu früh, endgültige Einschätzungen abzugeben. Zumindest ist es derzeit besser, als in der Zeit der kommunistischen Diktatur. Man kann immerhin noch reisen. Die Tochter meiner Frau ist zum Beispiel gerade Stipendiatin in Bristol. Und es gibt natürlich grundsätzlich eine sehr starke Abwanderung. Das ist eine Mahnung.

Zsoka: Sehr viele Jugendliche aus Ungarn ziehen gerade ins Ausland. Ich habe heute sogar eine ungarische Facebook-Gruppe entdeckt, die den Namen trägt: „Unsere Kinder sind draußen in der Welt“. Viele Eltern schreiben dort: „Es ist schwierig, wenn die Kinder weg sind, aber wir möchten, dass sie im Ausland gute Ausbildungen und Jobs bekommen.“

wien.ORF.at: In Österreich liest man fast täglich neue Schlagzeilen über Korruption in Politik und Wirtschaft. Sie haben das Land im Ausland oft verteidigt. Hat das vor allem mit dem direkten Vergleich mit Ungarn zu tun, den sie persönlich immer haben?

Paul: Österreich hat seine Geschichte zwar spät, aber immerhin doch aufgearbeitet. Man muss diese Vergleiche zwischen den Ländern immer anstrengen – mit ihrer eigenen Vergangenheit und damit, was sie sich erhofft haben, denn es gibt immer verschiedene Maßstäbe. Ich wurde wegen meines Buches „Mein verspieltes Land“ in Ungarn massiv kritisiert und angegriffen. Aber man muss die Wahrheit sagen!

In Österreich gibt es viele Probleme, aber es gibt öffentlich-rechtliche Medien. Es ist unmöglich, das mit Ungarn zu vergleichen – es ist eine andere Welt! Ja, in Österreich gibt es Korruption. Ja, in Österreich gibt es Vorurteile gegenüber Ausländern und Antisemitismus. Aber man redet darüber. In Ungarn wird das alles unter den Teppich gekehrt. Durch die Machtkonzentration und den Nationalismus wird es einem in Ungarn sehr übel genommen, wenn man kritisch ist – ganz besonders, wenn man aus dem Ausland kritisch ist.

wien.ORF.at: Sie haben in Ungarn kürzlich auch einen Preis für kritische Journalisten gestiftet.

Paul: Ja, es ist ein kleiner Preis, denn er wird nur einmal im Jahr an eine Person aus den Printmedien vergeben. Aber ich wollte damit ungarischen Journalisten helfen, die unter Druck sind, oder Gefahr laufen, ihre Stelle zu verlieren. Für die Auswahl des Preisträgers gibt es eine Jury – damit habe ich nichts zu tun. Es haben sich auf Anhieb mehr als 30 Journalisten für den Preis beworben. Im November ist die Preisverleihung, aber ich weiß noch nicht, wer der Gewinner ist, denn ich will mich in die Auswahl nicht einmischen (lacht).

Zsoka: Wolltest Du überhaupt, dass das in den österreichischen Medien steht?

Paul: Naja, erwähnen kann man es schon (lacht).

Paul und Zsóka Lendvai

ORF

Lendvai: „Meine Frau ist begeistert von skandinavischen Krimis. Ich nicht.“

wien.ORF.at: Was machen Sie eigentlich, wenn Sie sich mal nicht mit Politik oder Literatur beschäftigen?

Paul: Wir sind beide voll beschäftigt und ausgelastet und lesen immer viel, denn wir sind ein intellektueller Haushalt (lacht). Es gibt vor allem zwei Orte, die dafür wichtig sind: Erstens die Toilette. Zweitens lese ich in der Früh im Bett, wenn meine Frau noch schläft – ganz leise.

Zsoka: Und wir lesen gemeinsam ungarische Gedichte. Pauli liest sie laut vor, denn seine Frau hört sehr gerne seine Stimme.

Paul: Bitte! keine Untergriffe!

Zsoka: Pauli, Du könntest dein Arbeitszimmer zeigen. Da gibt es noch mehr Bücher, als hier im Wohnzimmer und außerdem mehr Unordnung (lacht).

wien.ORF.at: Was lesen Sie, was nichts mit Ihrer Arbeit zu tun hat - zum Beispiel abends vor dem Schlafengehen?

Paul: Ich lese zum Beispiel Karl-Heinz Bohrer, die Tagebücher von Peter Sloterdijk, oder die Essays von Tony Judt. Meine Frau ist auch begeistert von skandinavischen Krimis. Ich nicht. Aber jetzt zeige ich Ihnen mein Arbeitszimmer.

wien.ORF.at: Vielen Dank für das Gespräch!

Das Interview führte Martin Tschiderer, wien.ORF.at

Links: