Studie: Pflegekinder als Arbeitskräfte

Die Wiener Pflegekinder in der Nachkriegszeit sind oft als Arbeitskräfte ausgebeutet worden und Gewalt ausgesetzt gewesen. Das ist das Ergebnis einer Untersuchung im Auftrag der Stadt Wien.

Die Studie des Kompetenzzentrums für Soziale Arbeit der Fachhochschule Campus Wien trägt den Titel „Lebenswelten der Pflegekinder in der Wiener Nachkriegszeit 1955 - 1970“. Seit Herbst 2012 wurden 15 Interviews mit ehemaligen Pflegekindern - zehn Frauen und fünf Männern - und drei Gespräche mit ehemaligen Fürsorgerinnen geführt.

Zu wenige Pflegefamilien in Wien

Ziel war, die alltags- und lebensweltlichen Erfahrungen der Betroffenen zu beschreiben und ihnen auch eine Stimme zu geben, hieß es. Keine Vorgabe war, Sachverhalte zu prüfen und Täter auszuforschen. Betont wurde, dass es sich nicht um eine quantitative, sondern um eine qualitative Studie handelt.

Die Pflegekinder der Nachkriegszeit lebten teils bei Familien in Wien, teils bei Familien auf dem Land - hier insbesondere im Südburgenland und in der Südsteiermark. Wobei die Unterbringung in den Bundesländern ab 1958 stetig zunahm: von 379 Kindern auf 1.276 Kinder im Jahr 1969, berichtete Studienleiterin Elisabeth Raab-Steiner. Grund dafür war, dass es in der Bundeshauptstadt zu wenige Pflegefamilien gab.

Die Pflegefamilien gehörten in der Bundeshauptstadt meist der unteren Mittel- oder der Arbeiterschicht an, im ländlichen Bereich handelte es sich um ärmere Teile der Bauernschaft, wobei es auf dem Land üblich war, mitunter bis zu zehn Schützlinge aufzunehmen. Nebst dem Einsatz als Arbeitskraft war ein weiteres Motiv für die Betreuung der finanzielle Beitrag, den sie von der Stadt Wien dafür erhielten, wobei: „Es war ein Zubrot, aber ausschließlich vom Pflegegeld konnte man nicht leben“, erklärte die wissenschaftliche Mitarbeiterin der Studie, Gudrun Wolfgruber.

Oft sozial isoliert und geschlagen

Die Kinder dienten oft als Arbeitskräfte im Haushalt bzw. als Ersatz für Mägde und Knechte. „Da mussten wir zeitig schlafen gehen, denn da mussten wir um sechs aufstehen, damit wir vor der Schule noch Essiggurkerl pflücken. Nach der Schule heimgekommen, Essiggurkerl pflücken, dann am Abend noch mal Essiggurkerl pflücken. Aber nicht ein paar, das war ein Acker von 2.000 oder 3.000 Quadratmeter locker. Das war immens. Dann Holz schleppen, Kuhstall ausmisten, Kukuruz reiben, Kürbis putzen, rote Rüben, Erdäpfel ernten (...) . Einfach alles, es hat nichts gegeben, was wir nicht gemacht haben“, wurde etwa ein Betroffener zitiert.

Aufgrund ihrer Tätigkeit kam es oft zur körperlicher Überbeanspruchung bzw. zu Verletzungen. Die Pflegekinder waren oft sozial isoliert, hatten kaum bzw. nur eingeschränkten Zugang zu Freizeitgestaltungen. Grundsätzlich war die Beziehung zur Familie von Distanz, Kälte und Härte geprägt: „Hiebe statt Liebe. Ich könnte mich nie erinnern, dass uns die Mutter einmal in den Arm genommen hätte oder getröstet“, heißt es in den Erinnerungen.

Sexueller Missbrauch und Drohungen

Die Pflegekinder waren auch physischem, psychischem und sexuellem Missbrauch ausgesetzt: „Man kann aus allen Interviews rauslesen, egal ob die Kinder am Land oder in der Stadt untergebracht waren, dass es zu Gewalterfahrungen kam“, berichtete Wolfgruber. Dazu zählten Demütigungen und das Verbot von Sozialkontakten oder auch die häufige Drohung, das Kind „zurück ins Heim“ zu schicken.

Die „gesunde Watsche“ sei damals ein gängiges Erziehungsmittel gewesen, jedoch gingen die Züchtigungen weit darüber hinaus: Sie umfassten auch Schläge und Verletzungen mit Arbeitsgeräten oder Gurten. Die Gewalt übte je nach Familiensituation etwa der alkoholkranke Vater oder auch ältere leibliche Kinder aus.

Sprechverbot für Kinder

Auch zu sexuellem Missbrauch kam es - laut den Schilderungen der Betroffenen - oft regelmäßig über Jahre hinweg und mit dem Wissen der Pflegemutter. Die Täter waren nicht nur die Väter, sondern auch die älteren Geschwister, Bekannte oder Verwandte. Männliche Kinder berichteten von Übergriffen durch die Pflegemutter.

Was die Kontrolle betrifft: Die Aufsicht oblag der Kinderübernahmestelle der Stadt Wien und den örtlich zuständigen Fürsorgeämtern. „Den Fürsorgerinnen wurde es auch erschwert, Einblick zu nehmen, indem die Pflegeeltern den Kindern Sprechverbote erteilten und für die Kontrolle den Schein eines heilen Familienlebens erzeugten“, erzählte Raab-Steiner. Den Analysen zufolge sei das Aufwachsen in bäuerlichen Großfamilien am schlimmsten gewesen.

Finanzielle Probleme und Arbeitslosigkeit

Ein Großteil der Interviewpartner hat bis heute mit den Folgen der Vergangenheit zu kämpfen. Nach Beendigung des Betreuungsverhältnisses gab es meist keinen Kontakt mehr zur Pflegefamilie. Ein „glückliches Familienleben“ hätten die meisten auch als Erwachsene nicht erlebt, was heißt: In einigen Fällen wurden die Erfahrungen von einst wiederholt, etwa dass die eigenen Kinder in Pflege gegeben werden mussten.

Auch Auswirkungen auf das Berufsleben gab es: Die mangelnde Ausbildung führte zu einem Leben mit finanziellen Problemen und drohender Arbeitslosigkeit, wobei die Männer durch das Absolvieren einer Lehre eine berufliche Selbstständigkeit erlangen konnten. Die Situation der Frauen war, oft durch eine frühe Schwangerschaft bedingt, schwieriger, und sie mussten als Hilfsarbeiterinnen ihr Leben meistern.

Die Studie zu den Pflegekindern wird derzeit fertiggestellt. Sobald das geschehen ist, wird die Untersuchung online gestellt.

Nun ist Arbeitsgruppe der MA 11 am Zug

Damit hat die Stadt ein weiteres Stück der Geschichte der Wiener Jugendwohlfahrt in der Nachkriegszeit aufgearbeitet. Bisher veröffentlicht wurde schon der Bericht einer Historikerkommission über die Zustände in Kinderheimen, in dem festgehalten wird, dass Gewalt in großen Heimen zum Alltag gehörte - mehr dazu in Schockbericht zu Gewalt in Heimen.

Der bei der Präsentation anwesende Jugendstadtrat Christian Oxonitsch (SPÖ) betonte, dass der Bericht über die Pflegekinder wie auch die anderen Kommissionsberichte von einer eigenen Arbeitsgruppe der MA 11 (Jugend und Familie) und städtischer Kontrollinstanzen durchgearbeitet werde: „Wenn hier die entsprechende Abarbeitung erfolgt, dann werden wir sehen, welche Maßnahmen noch notwendig sind.“

Strafrechtliche Untersuchung zu Wilhelminenberg

Nach eineinhalb Jahren wurde im Juni auch der Abschlussbericht der Kommission zum ehemaligen Kinderheim Wilhelminenberg präsentiert. Demzufolge waren dort Kinder und Jugendliche über Jahrzehnte hinweg physischer und psychischer Gewalt und sexuellem Missbrauch ausgesetzt - mehr dazu in Wilhelminenberg: Missbrauch bestätigt. Um die Geschehnisse am Wilhelminenberg nun strafrechtlich zu klären, gibt es eine Sachverhaltsdarstellung mit bis zu 30 Namen von Beschuldigten - mehr dazu in Helige: 20 bis 30 Namen von Tätern.

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