Vergewaltigung: Seltene Berichte stärken Mythen

Von Vergewaltigungen erfährt die Öffentlichkeit selten. Nur zu jedem 43. Fall verfasst die Wiener Polizei eine Presseaussendung, wie eine Analyse zeigt. Doch die seltene Berichterstattung verstärke Mythen, so die Sozialarbeiterin Ursula Kussyk.

Der wichtigste Einrichtungsgegenstand in Kussyks Büro ist ein silbernes Schnurlostelefon mit der Wiener Nummer 523 22 22. Es ist der Notruf der Beratungsstelle für vergewaltigte Frauen und Mädchen, die sie in Wien-Hernals leitet. Kussyk und ihre drei Kolleginnen sind oft die ersten, denen Vergewaltigungsopfer anvertrauen, was sie erlebt haben.

Beratungszimmer

Verein Notruf

Der Verein Notruf berät kostenlos und auf Wunsch anonym

647 Vergewaltigungen wurden in Wien in den Jahren 2013 und 2014 insgesamt angezeigt. Die Öffentlichkeit erfuhr jedoch nur von einem Bruchteil der Fälle, wie eine datenjournalistische Analyse zeigt, die durch ein Fellowship der Rechercheplattform CORRECT!V und der Rudolf-Augstein-Stiftung ermöglicht wurde - mehr dazu in Die Delikte, von denen man kaum hört (news.ORF.at). Ursula Kussyk sprach im Interview mit wien.ORF.at über die Folgen und mögliche Lösungsansätze.

Hilfe für vergewaltigte Frauen und Mädchen

Der Verein Notruf.Beratung für vergewaltigte Frauen und Mädchen berät Opfer sexueller Gewalt kostenlos und auf Wunsch anonym. Auch Angehörige und Bezugspersonen können sich an den Verein wenden. Für Betroffene, die Anzeige erstatten, gibt es eine kostenlose Prozessbegleitung. Telefon: 01/532 22 22

24-Stunden-Frauennotruf der Stadt Wien: 01/71 71 9

wien.ORF.at: Die Wiener Polizei meldete 2013 und 2014 nur jede 43. Vergewaltigung an die Medien, aber jeden fünften Handtaschenraub. Ist das nicht ein krasses Missverhältnis?

Ursula Kussyk: Ja, das ist natürlich ein krasses Missverhältnis. Allerdings wünschen wir uns nicht in jedem Fall mehr Berichterstattung über sexuelle Gewalt und Vergewaltigung. Besser, es wird wenig berichtet als so, dass den Opfern die Schuld zugewiesen wird und sie dadurch retraumatisiert werden.

wien.ORF.at: Wie müsste eine Berichterstattung aussehen, die die Opfer nicht erneut traumatisiert?

Kussyk: Sehr sachlich, ohne ausschmückende Details, ohne zu sehr auf das Opfer einzugehen, dessen Kleidung und dessen Verhalten. Wenn mir die Handtasche geraubt worden ist, ist es ja auch egal, ob ich vorher in einem Lokal tanzen war und mich amüsiert habe.

wien.ORF.at: Wie zufrieden sind Sie diesbezüglich mit den Presseaussendungen der Wiener Polizei?

Kussyk: Mit einigen kann man durchaus zufrieden sein. Aber in einer Aussendung wird zum Beispiel beschrieben, dass die Frau mit den mutmaßlichen Tätern eine Lokaltour gemacht und beschlossen hat, die Nacht mit ihnen zu verbringen - wobei unklar ist, woher die Polizei diese Information hat. Das erweckt genau diese Art von Assoziation, die wir nicht dienlich finden: Na gut, wenn man sich so unvorsichtig und dumm aufführt, braucht es einen auch nicht wundern, wenn man in so eine schreckliche Situation kommt.

wien.ORF.at: Welche Folgen hat es, dass so selten über Vergewaltigungen berichtet wird?

Kussyk: Es macht sexuelle Gewalt unsichtbar. Und das stützt den Mythos, dass nur ganz wenige Männer Täter sind, die psychisch gestört oder in einem sexuellen Notstand sind. Und dass auch nur ganz wenige Frauen betroffen sind, die womöglich selbst schuld sind, weil sie sich unvorsichtig oder risikoreich verhalten haben.

wien.ORF.at: Wie machen sich diese Mythen über Vergewaltigungen in Ihrer Arbeit bemerkbar?

Kussyk: Es geht so weit, dass die Frauen oft selbst gar nicht erkennen, dass sie vergewaltigt wurden. Sie glauben, irgendetwas muss ich getan haben, um das provoziert zu haben. In den Köpfen schwirren Bilder von Vergewaltigungen, wo ein Mann ärgste Körpergewalt und Waffengewalt anwendet. Wenn der Täter das Überraschungsmoment nützt und nur so wenig Gewalt anwendet wie notwendig - sich zum Beispiel auf die Frau legt und ihr den Rock hochschiebt -, dann ist das in der Vorstellung vieler keine Vergewaltigung.

wien.ORF.at: Was würde es bringen, häufiger über Vergewaltigungsfälle zu berichten?

Kussyk: Es würde mehr Problembewusstsein schaffen. Damit allein würde sich allerdings auch nichts ändern, es braucht Hintergrundberichte - aus soziologischer, psychologischer und feministischer Sicht. Und dann muss gehandelt werden, mit Präventionsprogrammen und Ursachenforschung. Die Berichterstattung wäre ein Puzzlesteinchen in einem großen Mosaik der Auseinandersetzung, die dann hoffentlich im Laufe der Zeit zu Veränderungen führen würde.

wien.ORF.at: Wie finden es eigentlich die betroffenen Frauen, wenn berichtet wird?

Kussyk: Grundsätzlich finden sie Berichterstattung wichtig, aber wenn die Artikel ihren eigenen Fall betreffen, ist die Angst sehr groß, dass sie identifiziert werden könnten und dann ihr gesamtes soziales Umfeld Bescheid weiß. Deswegen wäre es besonders wichtig, alles Persönliche wegzulassen, das gibt eine gewisse Sicherheit. Das Alter und den Bezirk zu nennen ist in Ordnung – aber zusätzlich Informationen über den Beruf der Frau oder zum Beispiel ihren Familienstand wären heikel.

Das Interview führte Evelyn Kanya, wien.ORF.at

Die Recherche für diesen Artikel wurde durch ein Fellowship des Recherchezentrums CORRECT!V und der Rudolf-Augstein-Stiftung ermöglicht. Die Ergebnisse werden auch in der Wiener Wochenzeitung „Falter“ veröffentlicht.

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