Fotoband feiert Wiener „Tschocherl“

„Golden Days Before They End“ besingt das Ende der Wiener Tschocherl, Beisln und Branntweiner. Klaus Pichler und Clemens Marschall sammeln in dem Fotoband ungeschönte Bilder und Texte einer bunten Welt, die langsam verschwindet.

Der Journalist Marschall ist häufig zu Gast in den Wiener Tschocherln. Als ihm bewusst wurde, dass immer mehr davon zusperren mussten, beschloss er, die Beislkultur literarisch zu dokumentieren, so lange es noch etwas zu dokumentieren gibt. Fotograf Pichler kümmerte sich um die Bebilderung. Dabei entstand ein Fotoband voller uriger Bilder und Geschichten darüber, was sich vor und hinter den Tresen der Wiener Beisln, Tschocherl und Branntweiner abspielt.

„Das Wort vom Kellner ist Gesetz“

Dabei waren der Fotograf und der Autor immer ganz direkt mit den Wirten und Wirtinnen. „Wir haben uns immer sofort vor der ersten Bestellung vorgestellt und gefragt, ob wir Fotos machen dürfen“, sagte Pichler im Wien.ORF.at-Interview. „Da das alles sehr kleine Orte sind - das ist quasi eine einzige Gesprächsrunde -, haben auch immer alle zugehört, was der Kellner sagt. Und wenn der Keller einverstanden war, haben alle mitgemacht. Das Wort vom Kellner ist Gesetz.“

Bei ihrer Arbeit in den Lokalen behandelten Pichler und Marschall den Tresen als Arbeitsgrenze. Pichler fotografierte, was sich davor bei den Gästen abspielte, während Marschall die Wirte und Wirtinnen dahinter interviewte. Sie erzählten von aggressiven und zahlungsunwilligen Gästen, von Erlebnissen mit der Polizei und von gegenseitigem Respekt. Auch von Sorgen berichteten sie, denn die Beislkultur befinde sich im Aussterben, glaubt der Fotograf.

Alkoholiker

Klaus Pichler

Die Fotoserie zeugt von Galgenhumor

Alkohol ist Kitt, der alles zusammenhält

Das typische Wiener Beisl gehe in seiner Funktion über den gewöhnlichen Gastronomiebetrieb hinaus, so Pichler. Es fungiert als Nachbarschaftszentrum, in dem Stammgäste eine zweite Familie finden. Man betreibt Tauschhandel, leistet einander kleine Gefälligkeiten und verbringt viel Zeit miteinander. Dabei wird unermüdlich getrunken. „Alkoholismus ist dort natürlich omnipräsent, aber es wird nicht darüber gesprochen“, sagt Pichler. Er sieht Alkohol als Kitt, der alles zusammenhält.

Buchhinweis

„Golden Days Before They End“ von Klaus Pichler und Clemens Marschall, Edition Patrick Frey, ISBN: 978-3906803050, um 52 Euro im Handel erhältlich.

Was aus den Stammgästen werden soll, wenn die letzten urigen Lokale verschwinden, darüber macht sich der Fotograf Gedanken. „Die Leute sind auf die Beisln angewiesen“, sagt er. Durch gesellschaftliche Veränderungen wie sinkende Toleranz von Alkoholkonsum während der Arbeitszeit und das nächste Jahr in Kraft tretende umfassende Rauchverbot in Lokalen sowie das Aussterben der älteren Stammkundschaft sieht er die Beislkultur bedroht. Ersetzt würden die Tschocherl von Ketten und Wettcafés.

Fotoband über verdorbene Lebensmittel

Das ist nicht das erste Mal, dass sich Pichler mit Gesellschaftskritik auseinandersetzt. Sein bisher bekanntestes Werk ist ein Fotoband voller Bilder von verdorbenen Lebensmitteln, die wie Kostbarkeiten fotografiert beinahe appetitlich aussehen. Titel des Buches ist „One Third“ als Anspielung auf einen UNO-Bericht, der besagt, dass ein Drittel aller Lebensmittel zu Abfall wird. Marschall ist Autor und Herausgeber von „Rokko’s Adventures“, einem Magazin über Kunst und Kultur abseits des Mainstreams.

Theresa Loibl, wien.ORF.at

Links: