Flüchtlingskoordinator: Kein neuer „Peak“

Wien betreut derzeit 20.400 Flüchtlinge in der Grundversorgung. Peter Hacker, städtischer Flüchtlingskoordinator, sieht keinen neuerlichen „Peak“ - wie im Herbst 2015.

„Wir haben seit einem halben Jahr eine durchaus ruhige Situation und geringe Fluktuationen. Das wird auch im kommenden Herbst und Winter nicht anders sein“, sagte Hacker im APA-Interview.

Die Flüchtlingssituation in Wien sei „gar nicht angespannt“. Wiewohl Hacker keine großen Ausreißer zur jetzigen Lage erwartet, gebe es natürlich schon ein paar „Unsicherheitsfaktoren“. Denn die EU-Strategien wie funktionierende Aufnahmezentren an den Außengrenzen und eine solidarische Verteilung der Flüchtlinge in den Mitgliedsstaaten funktionierten nach wie vor nicht.

Der Wiener Flüchtlingskoordinator Peter Hacker

APA/Hochmuth

Hacker sieht „sozialpolitische Neidhammeldebatte“ rund um Mindestsicherung

Mehrheit ist privat untergebracht

Von den 20.400 Menschen sind laut Büro des Flüchtlingskoordinators weniger als die Hälfte - rund 38 Prozent - in organisierten Quartieren untergebracht. Diese teilen sich wiederum in 80 fixe Unterkünfte und 20 Notquartiere auf. Die regulären Einrichtungen, die sich auf 59 Standorte verteilen, verfügen aktuell über rund 4.700 Plätze. In den provisorischen Notquartieren nächtigen darüber hinaus rund 3.000 Personen.

Die restlichen etwa 62 Prozent - mehr als 12.000 Flüchtlinge - sind in privaten Unterkünften untergebracht. Zum Vergleich: Vor einem halben Jahr (Stichtag: 17. Februar) betrug die Privatquote bei einer ähnlichen Anzahl von Menschen in der Grundversorgung (20.600) lediglich 45 Prozent. Hacker will diesen Anteil bis Jahresende auf 65 bis 70 Prozent heben. Vor der großen Fluchtbewegung im Herbst 2015 sei man schon bei 80 Prozent gewesen. „Das war sensationell“, sagte er im APA-Interview.

Grafik zu Flüchtlingen in Wien

Grafik: APA/ORF.at; Quelle: APA/FSW

Kein Bedarf für mehr Kontrollen in Quartieren

Was die Wiener Quartiere anbelangt, sieht der Flüchtlingskoordinator keinen Bedarf für mehr Kontrollen oder Polizeipräsenz. Man habe schon vor Monaten spezielle Kontaktbeamte mit Farsi- oder Arabischkenntnissen implementiert - denn: „Wir hatten die Situation, dass zwar Polizisten in die Einrichtungen gegangen sind, aber keiner hat ein Wort verstanden.“ Das funktioniere nun sehr gut: „Ich würde meinen, da braucht es keine Verstärkung“ - mehr dazu in Polizei: Kontaktbeamte in Flüchtlingsquartieren.

„Teilweise dreifach in Deutsch- oder Wertekursen“

In der Flüchtlingspolitik des Bundes erkennt Hacker durchaus Verbesserungen, seit die Regierung Kern ihr Amt angetreten hat: „Zweifelsohne ist zu erkennen, dass wir uns in vielen Punkten einem pragmatischen Weg angenähert haben.“ Das gelte nicht nur für Kanzler Christian Kern (SPÖ), sondern auch für Innenminister Wolfgang Sobotka (ÖVP), betonte der Wiener Flüchtlingskoordinator.

Hälfte kommt aus Afghanistan

Nach Herkunft betrachtet kommt rund die Hälfte aller Flüchtlinge in der Wiener Grundversorgung aus Afghanistan (5.400) und Syrien (5.200). Dahinter folgen Menschen aus dem Irak (2.700), aus Russland (1.400) und dem Iran (1.000). Die Bundeshauptstadt beherbergt derzeit übrigens 857 unbegleitete minderjährige Flüchtlinge - 113 davon sind unter 14 Jahre alt.

Recht angetan ist er auch vom im Juni vorgestellten Integrationspaket, das etwa mehr Deutschkurse und eine schrittweise Öffnung des Arbeitsmarkts vorsieht: „Dass es das Paket gibt, taugt mir sehr.“ Hier gebe es eine sehr gute Zusammenarbeit mit Arbeitsmarktservice (AMS) und Innenministerium.

Allerdings: „Wer sich nicht einbringen will, ist das Integrationsministerium.“ Denn dieses wolle die Organisation von Deutschkursen offenbar nicht aus der Hand geben, was zu Doppelgleisigkeiten führe. „Wir schicken Menschen teilweise doppelt und dreifach in Deutsch- oder Wertekurse“, andere Personen bekämen dann keinen Platz. Gleichzeitig bekomme das Integrationsministerium auch nicht die Clearing-Daten (Erhebung unter anderem von Ausbildungsniveau und Qualifikationen von Asylberechtigten und subsidiär Schutzberechtigten, Anm.) des AMS: „Das interessiert sie auch gar nicht.“

„Merkwürdige Krücken“ bei Arbeitsmarktöffnung

Was die Arbeitsmarktöffnung anbelangt, hatte der Bund Gemeinden aufgefordert, Vorschläge zu übermitteln, wo Asylwerber für gemeinnützige Tätigkeiten eingesetzt werden könnten. Wien habe hier schon eine „zwei- bis dreiseitige Liste“ geschickt.

Sehr effizient ist der Ansatz laut Hacker aber nicht: „Das ist ja alles Mühsal. Kleine Gemeinden haben kein Personal dafür. Das muss dann jemand aus dem Sozialbereich mitmachen und der hat keine Zeit, sich quer durch die Verwaltung z. B. von Mürzzuschlag zu ackern und lange Listen zu schreiben.“

Hacker tritt statt „merkwürdiger Krücken“ für eine breitangelegte Öffnung ein. Man müsse sich die Dimension vor Augen halten. Von österreichweit 85.000 Menschen in der Grundversorgung sei rund die Hälfte im erwerbsfähigen Alter: „Wenn zwei Drittel davon auf den Arbeitsmarkt kommen, wird die Welt nicht untergehen. Das wird überhaupt niemand merken.“

„Sozialpolitische Neidhammeldebatte“

Ebenfalls ein Dorn im Auge ist Hacker - er ist auch Chef des Fonds Soziales Wien - die „sozialpolitische Neidhammeldebatte“ rund um das Thema Mindestsicherung. „Das ist ein bewusster Missbrauch eines Themas mit der Stoßrichtung, das gesamte Sozialsystem zu unterhöhlen“, sagte er in Richtung ÖVP, die hier für Kürzungen vor allem für Flüchtlinge eintritt. Erst am Montag hatte die Wiener Sozialstadträtin Sonja Wehsely (SPÖ) Kritik an der ÖVP geäußert - mehr dazu in Wehsely: Lopatka „scheinheilig“.

Mit dem Argument, hohe Sozialleistungen hätten eine Magnetwirkung für fliehende Menschen, kann der Koordinator ebenfalls nicht viel anfangen: „Da wird ja manchmal ein Bild kommuniziert, wo man sich denkt: Die sitzen alle beim Caipirinha in Aleppo und überlegen sich, wo es am hübschesten ist, Sozialhilfe zu beziehen.“ Sozialhilfe sei ein „Nullfaktor“ bei der Fluchtentscheidung, verwies Hacker auf Untersuchungen: „Die Leute wollen keine Sozialhilfe, sondern eine Lebensperspektive, eine Alternative zu Krieg und Terror.“

Menschen schnell in Deutschkurse und Arbeit bringen

Hacker glaubt, dass die Mehrheit in der Bevölkerungen den Flüchtlingskurs der Stadt mitträgt. Natürlich gebe es jetzt Verunsicherung durch die Attentate in Frankreich und Deutschland. Diese hätten aber immer Menschen begangen, „die nicht mit der Fluchtbewegung gekommen sind oder teilweise das Asylrecht missbraucht haben und - das vereint sie alle - nichts mehr zu verlieren haben“.

Insofern müsse es das Ziel sein, „dass es keine Menschen in unserer Gesellschaft und unserer Stadt gibt, die das subjektive Gefühl haben, sie hätten nichts mehr zu verlieren“. Wichtig sei es, Menschen schnell in Deutschkurse und später in Arbeit zu bringen. Das Sozialsystem auszuhöhlen, könne mittelfristig womöglich zum Sicherheitsproblem werden, verwies Hacker noch einmal auf die Mindestsicherungsdebatte.

Lob für andere Bundesländer bei Unterbringung

Für die Unterbringung bedachte Hacker die anderen Bundesländer durchaus mit Lob. Hier sei viel geschehen. Die vereinbarte Quote erfüllen allerdings aktuell nur Wien (116 Prozent) und Vorarlberg (104 Prozent). Diese Art der Berechnung sei jedoch „nicht ganz fair“, tritt der Wiener Koordinator für eine Änderung ein. „In fast allen Bundesländern haben wir leerstehende Quartiere, die sie auch noch selbst bezahlen müssen, die aber in der Quotendarstellung nicht vorkommen.“ Denn freie Plätze würden nicht berücksichtigt.

Den Fleiß der Bundesländer führt Hacker auch auf die Arbeit des mit Ende September scheidenden Bundesflüchtlingskoordinators, Christian Konrad, zurück: „Er hat Tolles bewirkt. Ich finde es schade, dass er aufhört.“ Zwecks Nachhaltigkeit plädiert er für die Nachbesetzung der Funktion. Sein eigenes Amt sei übrigens nicht im Vorhinein befristet worden, aber natürlich eine nur auf eine bestimmte Zeit ausgelegte Tätigkeit, so Hacker: „Das Schönste von solchen Jobs ist ja, das Ziel zu haben, sich selbst abzuschaffen.“

Link: