Literaturtalente mit Lernschwierigkeiten

Zum zehnten Mal ist am Donnerstag in Wien der Literaturpreis „Ohrenschmaus“ vergeben worden. Wie beim Bachmannpreis werden die Texte vor Publikum gelesen, die Gewinner stehen da aber schon fest: Menschen mit Lernschwierigkeiten.

Die Idee ist ähnlich wie die der „Art Brut“ in der Bildenden Kunst. Es geht nicht darum, Menschen mit psychischen Krankheiten oder Lernschwierigkeiten aus therapeutischen Gründen schreiben zu lassen. Es geht schon gar nicht um Beschäftigungstherapie. Es geht darum, Talente zu entdecken und zu fördern, in Werkstätten, in WGs, in Wohnheimen. Im Lauf der letzten zehn Jahre sind insgesamt 1.500 Texte eingereicht worden.

Die Preisträger des Ohrenschmaus Literaturwettbewerbs

Teresa Novotny

Die Preisträger des Ohrenschmaus Literaturwettbewerbs

Die Gewinnertexte sind auch heuer wieder überzeugend. Es gibt dabei aus der Sicht des interessierten Laien zwei Kategorien: Solche, in denen die spezifische Lebenswelt von Menschen mit Behinderung reflektiert wird und solche, in denen die spezielle, individuelle, kreative Art zu Denken der Künstler zum Ausdruck kommt, sei es frei assoziativ, in Form von Gedichten oder als mal wilde, mal leise, mal leichtfüßige Fantasien. In beiden Fällen ist es wert, sich gemeinsam mit den Autoren auf Entdeckungsreise in ihre Welt zu begeben.

„Spritziger, mutiger, flinker“

In die erste Kategorie fällt der Siegertext von Sybille Grafl. Ihr eindringlicher Text, der dennoch ohne bleierne Schwere auskommt, erzählt, ausgehend von der Geburt, von einem Leben, in dem das Wort „trotzdem“ eine große Rolle spielt. Von der leiblichen Mutter zur Adoption freigegeben, hatte sie trotzdem eine gute Familie. Im Kindergarten hatte wurde sie von einer Pädagogin herumgeschubst und von anderen Kindern ausgegrenzt, hatte aber trotzdem immer wieder eine gute Zeit, weil es eine zweite Betreuerin gab, die lieb war.

In der Volksschule ging das mit der Diskriminierung weiter, aber da hatte sie Sascha, der wie sie an Skoliose litt. Die beiden hielten zusammen wie Pech und Schwefel. Dann die Zeit der Operationen, Schmerzen, Medikamente, des Sonderpädagogischen Zentrums. Heute ist Grafl angekommen, sie ist ausgefüllt von ihrer Arbeit als Kunsthandwerkerin - sie bemalt Keramik- und Glasgeschirr, außerdem moderiert sie Veranstaltungen und diktiert Texte. Der vorliegende hat ein Happy End, weil die Gegenwart besser ist, als es die Kindheit war: „Jetzt bin ich spritziger, mutiger, flinker und vor allem, ich lass mich nicht mehr unterkriegen.“

Viktor Noworski: Feuerwerk der Dialektlyrik

Teresa Novotny

Viktor Noworski: Feuerwerk der Dialektlyrik

Von „raukaden Fabrenungsmotortshäsna“

Der zweite Hauptpreis geht an Viktor Noworski, der eine avantgardistische Coolness mit bodenständigem Einschlag an den Tag legt, wie man es seit H.C. Artmanns „med ana schwoazzn dintn“ so nicht mehr erlebt hat. Sein Text, irgendwo zwischen lyrischer Prosa und prosaischer Lyrik, wird von einem zwingenden Rhythmus getrieben. Eine jüdische Sozialisation wird da angedeutet, gegenwartsgesättigt und mit Brooklyner Einschlag, wiewohl durchaus rural. Gleich der Einstieg ist eine Wucht:

„Då is amåy aus da Shtådmittn ana kumma mit an Auto und woytat uns Autos fakaufn. Wauns photovoltaishe, - åyso net – raukade! – gwesn warn, häd ma a pår kauft; weu a HOOD håbms! (Dees Word „HOOD“ hoast sowoy „Kaputsn“ åys „Motorhaubm“!) Åwa de wårn leida Fabrenungsmotortshäsna, åyso raukad und daher TREYFE (des hoast is Gegnteu fun kosher), åyso mir habms net kauft.“ Im weiteren Verlauf wird die Handlung zunächst wild, dann noch wilder, ein Höllenritt durch fantastische Wälder, eine angebliche Verhexung und schließlich ein Freispruch - auch, wenn das Opfer nicht mehr lebt.

Das „Totlachen“ ist ein Monster

Der dritte Hauptpreis geht an Herbert Schinko für seine lyrische Reflexion zum Thema Zeit, auch hier wird der drängende Rhythmus hör- und spürbar: „Die Zeit rennt immer weiter. / Die Zeit muss nicht stehen bleiben. /Die Zeit muss nicht weg gehen. / Die Zeit soll da bleiben bei mir.“

Neben den Hauptpreisen wird immer auch eine größere Anzahl von weiteren herausragenden Texten gewürdigt. Heuer sticht dabei etwa Hakan Alkis inhaltlich dichte Assoziationskette „Kopf-denken“ ins Auge. So berührend wie mitreißend ist Melanie Korns „Mein neuer Weg“. Sie erzählt in klarer, bestechender Sprache, wie sie sich durchgeboxt hat in einer lange andauernden schwierige Phase ihres Lebens, nach der Trennung der Eltern und dann dem Tod der Mutter. Aber auch hier, ähnlich wie bei Sybille Grafl, ein Happy End.

Zum Abschluss noch ein Auszug aus Herwig Hacks humorvollem Gedicht „Ohrenschmaus“, bei dem jede Pointe sitzt, ohne dass ein billiges „Schenkelklopfer“-Gefühl aufkommt, eher im Gegenteil - der Text ist von großer Schönheit:

„Das Raummonster heißt ‚Totlachen‘.
Plötzlich rutscht es aus und bricht sich das Genick.
Totlachen war tot.
Es wurde Kohle.
Jetzt ist es ein Bleistift.“

Simon Hadler, ORF.at

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