Wien auf Pfählen: Ein Hauch von Venedig

Es gibt sie nicht nur in Venedig: Auch in Wien stehen viele Häuser auf Holzpfählen. Zum Beispiel die Rossauer Kaserne. Die meisten Pfahlbauten wurden in der Gründerzeit errichtet und zieren heute noch das Hauptstadtbild.

Ab 1850 begannen die Menschen in Scharen nach Wien zu ziehen. Die Start-up-Szene florierte. Die große Zeit der Unternehmensgründungen hatte begonnen, ausgelöst durch die Industrialisierung. Nicht grundlos bezeichnen Historiker die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts als „Gründerzeit“. In der Hoffnung auf Arbeit migrierten Hunderttausende Menschen in die Stadt. Alleine zwischen 1880 und 1890 verdoppelte sich die Einwohnerzahl auf beinahe 1,4 Millionen. Neuer Wohnraum musste erschlossen werden.

Größtenteils unbebaut waren Gebiete beim Donaukanal und an Bächen. Der nasse, lockere Untergrund stellte die Bauherren jedoch vor eine Herausforderung: „Die festen, tragfähigen Schichten lagen sehr tief. Deshalb hat man Pfähle eingeschlagen, an deren Spitze ein Eisenschuh angebracht war“, sagt Andreas Kolbitsch, Studiendekan der TU Wien und Bauingenieur.

Das Fundament der Rossauer Kaserne besteht aus 30.000 Holzpfählen

ORF.at/Zita Klimek

Das Fundament der Rossauer Kaserne besteht aus 30.000 Holzpfählen

Rossauer Kaserne steht auf 30.000 Pfählen

In der Gründerzeit wurden in Wien viele Häuser auf Pfählen errichtet. Eine Technik, die bis ins fünfte Jahrtausend vor Christus zurückreicht und dafür verantwortlich ist, dass Städte wie Venedig oder Amsterdam überhaupt existieren. Aber wie viel Venedig steckt in Wien?

Das will kein Experte beziffern. „In den alten Bauplänen ist alles sehr genau eingezeichnet, nur nicht das Fundament“, erklärt Kolbitsch. Die „Fundierung“ sei der letzte Schritt der Bauplanung gewesen und nicht vermerkt worden. Christoph Blesl, von der Abteilung für Archäologie im Bundesdenkmalamt, kennt dennoch einige Gründerzeithäuser, die auf „Holzpiloten“ stehen, wie die Baupfähle im Fachjargon heißen.

Seit 1989 ist das Bundesministerium für Landesverteidigung in der Kaserne

Foto: Thomas Ledl Lizenz: Creative Commons Attribution-Share Alike 3.0 Austria

Seit 1989 ist das Bundesministerium für Landesverteidigung in der Kaserne

Der vielleicht spektakulärste Fall ist die Rossauer Kaserne. Das österreichische Bundesministerium für Landesverteidigung sitzt auf 30.000 Holzpfählen. Die Kaserne wurde von 1865 bis 1869 im feuchten Schwemmland des Donaukanals errichtet. Auf einem ähnlichen Fundament sollen zwei größere Gebäudekomplexe am Schottenring 13-17 und in der Neutorgasse 4-8 ruhen: „Pfahlbauten sind in Wien wirklich weiter verbreitet, als viele denken“, sagt Blesl.

Manche Pfahlhäuser einsturzgefährdet

Pfahlhäuser gibt es auch in der Nähe von Bächen. Genannt seien der Alser und der Ottakringer Bach. Sie flossen einst durch die Stadt und speisten Getreidemühlen. Der Großteil dieser Bäche wurde im 19. Jahrhundert in die Kanalisation integriert. Das sollte Seuchen eindämmen und die Geruchsbelästigung reduzieren. Die Bäche plätschern noch heute unterirdisch durch die Stadt.

Das blieb nicht ohne Auswirkungen: „Diese Entwicklung hat den Grundwasserspiegel beeinflusst. Solange Holzpfähle unter Wasser stehen, ist es kein Problem. Steigt und sinkt der Wasserspiegel, beginnen sie morsch zu werden“, sagt Kolbtisch. Brechende Pfähle könnten ein Gebäude zum Einsturz bringen: „Das wirkt sich auf die gesamte Bausubstanz aus. In der Fassade entstehen Risse, wenn sich Teile der Fundamente setzen.“

Wiener Kanalisation

Wien Kanal

Durch den Ausbau der Kanalisation sank der Grundwasserspiegel

Offenbar nur selten Probleme

Probleme mit Pfahlhäusern gebe es allerdings nur sehr selten, sagt Gerhard Cech, Leiter der Baupolizei Wien. Komplikationen sollen vor allem dann auftreten, wenn Dachgeschosse ausgebaut werden. „Bei Dachgeschossausbauten muss ein Sachverständiger im Detail prüfen, ob das Haus auf Pfählen steht“, sagt Cech. Ihm seien allerdings erst fünf Fälle bekannt, wo das Fundament verstärkt werden musste.

Kaputte Pfähle sind für ein Gebäude noch kein Todesurteil. Es gibt mehrere Möglichkeiten, das Haus zu retten. Zum Beispiel mit dem Düsenstrahlenverfahren, wo mit Hochdruck Zement in das Fundament gejagt wird.

Hohlräume von Pfählen, auf denen im 14. Jahrhundert in der Stallburg gebaut wurde

Bundesdenkmalamt

Stallburg: Hohlräume von Pfählen, auf denen im 14. Jahrhundert gebaut wurde

Erste Wiener Pfahlbauten im 14. Jahrhundert

Bauforscher und Archäologe Paul Mitchell sagt, dass bereits vor der Gründerzeit Pfähle in Wien als Fundament gedient hätten. Bei Ausgrabungen im Bereich von alten Festungsanlagen, seien immer wieder Hohlräume entdeckt worden: „Die Holzpiloten sind verschwunden, aber es gab sie und sie haben Teile der Festungen gestützt.“ Bei Grabungen in der Stallburg und der Salvatorgasse, fanden Archäologen solche Hohlräume. Bereits im 14. Jahrhundert sei in Wien auf Pfählen gebaut worden, so Mitchell.

„Viele mittelalterliche Gebäude würden einer statischen Prüfung nicht standhalten“, erklärt Mitchell, „aber in der Regel sind sie sicher und man kann ja nicht alles mit alter Bausubstanz abreißen.“ Die Lagunenstadt Venedig, die vollständig auf Pfählen errichtet ist, versinkt pro Jahr um zwei Millimeter. Dieser Untergang sollte zumindest dem Großteil Wiens erspart bleiben. Dennoch sei bei Bauvorhaben in gewissen Gebieten Vorsicht geboten, betont Baupolizist Cech.

Michael Hammerl, wien.ORF.at