„Pinocchio“: Die animierte Reise eines Lausbuben

Nach internationalen Erfolgen gelangt Pierangelo Valtinonis Oper „Pinocchio“ morgen zur österreichischen Erstaufführung an der Volksoper. Mit Videoanimationen entführt Regisseur Philipp M. Krenn Jung und Alt in die Märchenwelt.

Das Orchester ist auf Bühnenniveau, das Saallicht an. Die ersten Takte erklingen, Kinder treten auf und beginnen die Geschichte zu erzählen, das Orchester sinkt in den Graben. Schon zu Beginn der Oper wird klar: Die Volksoper wird mit dieser „Pinocchio“-Serie technologisch Herausforderndes zu meistern haben.

Schon tummeln sich Maskenbildner, Techniker, Garderobieren und Requisiteure auf der Bühne. Der Prolog von „Pinocchio“ ist in Krenns Inszenierung eine typische Backstage-Situation, wie man sie als Zuseher nur selten zu Gesicht bekommt. Sie zeigt alle Beteiligten einer Theaterproduktion und stellt klar: Hier wird eine Geschichte erzählt. Da darf Fantasie walten, da wird behauptet und muss nicht alles real sein.

Pinocchio (Juliette Khalil) wächst die Nase.

Barbara Pálffy/Volksoper Wien

Pinocchio (Juliette Khalil) wächst die Nase

Animationen und Fantasiewelten

Das Bühnenbild rollt herein. Man befindet sich in Geppettos Werkstatt, der voller Stolz seine Holzpuppe vollendet. Als Video auf eine Holzkiste projiziert, erwacht diese dann schnell zum Leben und wird zu Pinocchio (Juliette Khalil), einem lebendigen Buben mit braunem Hut und roten Socken, der zahlreiche Abenteuer erlebt. Pinocchio muss sich aus den Fängen des grausamen Zirkusdirektors Mangiafuoco (Maximilian Klakow) befreien, wird von Kater und Fuchs ausgeraubt und verliert Geppetto (Daniel Ohlenschläger) an einen hungrigen Walfisch.

Die moralische Instanz ist stets die gute Fee (Martina Dorak), die Glitzerstaub verteilt, sonst aber als coole Erwachsene daherkommt. Überhaupt legt Krenn in seinem „Pinocchio“ wenig Wert auf konservatives Kindertheater, sondern setzt auf effektvolle Momente. In Mangiafuocos Zirkuswelt tummeln sich etwa die Mitglieder des Kinder- und Jugendchores der Wiener Volksoper als Löwen, Dompteure, Gewichtheber und Einradfahrer.

Fuchs und Kater sind keine kleinen Märchentiere, sondern Punkröhren mit Fuchsschwanz oder katzenartig gestylten Haaren. Das Schlaraffenland, in das sich Pinocchio flüchtet, ist in Krenns Welt bunt und voller paradiesischer Schätze: elektrische Autos, Smartphones, Plastikspielzeug und Skateboards.

"Pinocchio" - Schlaraffenland statt Schule

Barbara Pálffy/Volksoper Wien

Schlaraffenland statt Schule

Taubenflug und Unterwasserwelt

Pinocchio als hölzerne Puppe, der eine Nase wächst, die auf einer Taube durch die Lüfte fliegt und unter Wasser auf Geppetto im Walfischbauch trifft. Was dem Trickfilm ein Leichtes, könne im Theater nur schwer behauptet werden. Schließlich sei man im Theater auf den Bühnenboden fixiert und komme schnell an seine Grenzen, wenn man fliegen oder im Wasser schwimmen will.

Hier sieht Regisseur Krenn großes Potenzial: „Ich glaube, dass der Einsatz von Video im Theater noch lange nicht voll ausgeschöpft ist. Bei ‚Pinocchio‘ war es mir wichtig, Video dort einzusetzen, wo das Theater keine dritte Dimension aufmachen kann. Sodass Pinocchio tatsächlich schweben oder auf einer Taube fliegen kann.“

"Pinocchio": Noch als Projektion(Videos: Andreas Ivancsics), erwacht die hölzerne Puppe bald zum Leben.

Barbara Pálffy/Volksoper Wien

Noch als Projektion (Videos: Andreas Ivancsics) erwacht die hölzerne Puppe bald zum Leben

Möglich machen das zahlreiche Videoanimationen des Videokünstlers Andreas Ivancsics, der mal bewegliche Bühnenelemente des Bühnenbildners Nikolaus Webern bespielt, oder Zuseher fast wie bei einer Virtual Reality Vorführung mit auf die Reise in den Walfischbauch nimmt.

Musikalische Sinnsuche

Das Libretto stammt von Paolo Madron. Komponiert hat „Pinocchio“ Pierangelo Valtinoni 2001 als einaktige Oper. Die heute gezeigte zweiaktige Fassung wurde 2006 an der Komischen Oper Berlin zum ersten Mal aufgeführt. Ab diesem Zeitpunkt feierte „Pinocchio“ an Häusern wie der Staatsoper Hamburg, in Leipzig, Moskau und Turin Erfolge. Geprägt habe den Komponisten vor allem Jazz und die Popmusik der 70er Jahre.

Als typischen zeitgenössischen Komponisten würde er sich allerdings nicht bezeichnen: „Avantgardistische Musik interessiert mich nicht. Meine musikalische Sprache ist kommunikativ.“ Eine Musik, die auch dem Dirigenten Mancusi gefällt: „Für mich verhält es sich mit Valtinonis Oper wie mit einer vierstimmigen Fuge von Bach, wo ich mich jedes Mal aufs Neue erfreue, wenn ich etwas höre oder sehe, das ich eventuell noch nicht kannte. Es ist gut, dass sich tonale Musik wieder durchsetzt und man den Zuhörer dort anpackt, wo er hingehört – beim Gefühl. Oper und Theater heißt Gefühle vermitteln. Und nicht, dass ich als Dirigent die Partitur aufmache und zunächst drei Seiten Erklärungen lesen muss, um zu verstehen, was die Klänge bedeuten sollen.“

Reges Treiben auf der Bühne

Herausforderungen lägen für den Dirigenten vielmehr darin, Musik und Szene zusammenzuhalten. Schließlich stehen 45 Buben und Mädchen des Kinder- und Jugendchores der Wiener Volksoper teilweise solistisch als Unterwasserbewohner, Zirkusartisten, Grillen und Schnecken auf der Bühne – gekoppelt mit den Videoeinspielungen und zahlreichen Regieeinfällen nicht nur schauspielerisch, sondern auch musikalisch eine Herausforderung: „Kinder sind unberechenbar. Es gibt in dieser Produktion Szenen, wo es den Kindern schwerfällt, mich zu sehen. Da geben dann die Kinder das Tempo an und ich folge ihnen mit meinem Schlag. Das macht Theater so spannend, es kann jeden Abend anders sein“, fasst Mancusi zusammen.

Valtinoni bezeichnet seine Erfolgsoper gemeinsam mit seiner „Schneekönigin“ und dem „Zauberer von OZ“ gerne als „Trilogia della ricerca“: „Die Protagonisten der Stücke sind allesamt auf der Suche. Während Pinocchio seinen Vater verliert, begibt sich die Schneekönigin auf die Suche nach ihrem Freund. Beim ‚Zauberer von Oz‘ macht sich Dorothy auf die Reise, um sich selbst zu finden. Eine Reise die Kinder und Erwachsene gleichermaßen betrifft und wohl nicht als kindisch bezeichnet werden kann“, so Valtinoni im Gespräch mit ORF.at.

„Es ist ein bisschen wie mit Disney’s ‚Wall-E‘“

Um den Eindruck des Kindischen gar nicht erst aufkommen zu lassen, arbeitete Valtinoni intensiv mit dem Librettisten Madron zusammen und strich für die Oper jene Passagen aus Collodis Buch, die ihm zu moralisierend erschienen.

Das Werk rein als Oper für Kinder zu betrachten, liegt auch dem Dirigenten Mancusi fern: „Das Wort ‚Kinderoper‘ hat ähnlich wie ‚Filmmusik‘ einen despektierlichen Charakter bekommen. Zwar liegt „Pinocchio" ein Märchen für Kinder aus dem Jahr 1880 zu Grunde, dennoch würde ich Valtinonis Werk eher als Kinderoper für Erwachsene bezeichnen. Es ist ein bisschen wie mit Walt Disney’s Animationsfilm ‚Wall-E‘: Hier gibt es Ebenen, die Kinder nicht verstehen, aber Erwachsene faszinieren und umgekehrt. Sie laufen nebeneinander.“

"Pinocchio": Der Einsatz von Video, Animation und realer Bühnensituation – zum Beispiel bei Pinocchios Suche nach Geppetto.

Barbara Pálffy/Volksoper Wien

Der Einsatz von Video, Animation und realer Bühnensituation – zum Beispiel bei Pinocchios Suche nach Geppetto

Mancusi sieht diese Produktion als Paradebeispiel für ein Wagner’sches Gesamtkunstwerk: „Wir haben Video, spielen Ton ein, produzieren Töne live und zeigen Schauspiel, Gesang und Pantomime. So findet das Wagner’sche Gesamtkunstwerk im 21. Jahrhundert statt. Nur durch das Gemeinsame entstehen interessante Dinge.“

„Kinder gehen unvoreingenommen an Theater ran“

Auch die Zusammenarbeit von Kindern und Erwachsenen sei eine befruchtende gewesen, sagt Krenn. „Es haben nicht nur die Kinder von der Zusammenarbeit mit den Erwachsenen profitiert, auch die Solisten haben sicherlich einiges von den Kids gelernt. Schließlich gehen Kinder unvoreingenommen an Theater ran und bauen sich nicht selber schon die Wände auf, die sie sich im Laufe ihres Lebens angezüchtet haben. Die Kids machen und tun einfach und haben Spaß daran. Das steckt schon auch die Großen an, sich bei der Nase zu nehmen.“

Kinderoper als Werk voll seichter Pointen? Mitnichten, findet Regisseur Krenn. Er ging in seiner Arbeit an den Stoff genauso heran wie an jedes andere Stück auch. „Die Themen in ‚Pinocchio‘ müssen ernst genommen werden. Ich finde, sobald man anfängt, Kinder wie Kinder zu behandeln und Kindertheater nur als solches zu sehen, bekommt es etwas Lächerliches. Man muss Kindern nicht alles erklären und zeigen und Witze doppelt spielen, damit sie verstanden werden. Kinder haben genauso gutes Theater verdient.“

Elisabeth Stuppnig, für ORF.at

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