Wiener Kurden: Die Angst vor der Eskalation

Jeden Samstag demonstrieren in Wiens Innenstadt rund 500 Kurden gegen die türkische Regierung. Immer wieder gebe es Auseinandersetzungen mit „türkischen Nationalisten“, sagen die Demonstranten. Sie befürchten eine Eskalation.

Bilder von getöteten, kurdischen Kämpfern hängen im Vereinslokal in der Jurekgasse im 15. Bezirk. Nurcan Güleryüz, Co-Vorsitzende des Vereins „Kurdinnen in Wien“, kennt zu jedem Gesicht eine Geschichte. Seit 20. Jänner geht sie in Wien jeden Samstag auf die Straße, um zu demonstrieren. An diesem Tag begann das türkische Militär unter Machthaber Recep Tayyip Erdogan, kurdische Milizen in Nordysrien zu bekämpfen. Die Stadt Afrin ist mittlerweile in türkischer Hand.

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Altar für gefallene Kämpfer im Vereinslokal der Kurden-Dachorganisation

„Die Türkei führt in Afrin ethnische Säuberungen durch. Wir möchten, dass die österreichischen Medien darüber berichten“, sagt Güleryüz. Ihr Verein ist der Feykom unterstellt, der kurdischen Dachorganisation in Österreich. „Die internationale Gemeinschaft unternimmt nichts gegen den Terror der Türkei“, sagt Osman Ayaz, Co-Vorsitzender der Feykom.

Gegenseitige Provokationen bei Demos

Güleryüz ist bei jeder Demonstration vor Ort. „Viele unserer Demonstranten kommen aus Nordsyrien, haben dort ihre Familien. Sie verkraften das einfach nicht. Es ist schwierig, sie ruhig zu halten“, sagt sie. In jüngster Zeit kam es zu keinen größeren Ausschreitungen in Wien. Angespannt ist die Lage aber auf jeden Fall. Gegenseitige Provokation zwischen Türken und Kurden stehen vor allem bei den Demos auf der Tagesordnung.

Siyar Kayan, vom Verein für Studierende aus Kurdistan, sagt: „Es kommt immer wieder von Seiten türkisch-nationalistischer Gruppierungen bei unseren Demonstrationen zu Provokationen, beziehungsweise Attacken, die dann einfach auch zu Ausschreitungen führen.“ Auch Güleryüz behauptet das: „Die Provokateure sind Jugendliche, die nicht darüber nachdenken, was sie machen. Sie werden von den Geheimdiensten der Türkei organisiert.“

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Jeden Samstag demonstrieren im Schnitt 500 Kurden in Wiens Innenstadt

Doch auch die Kurden provozieren. Politikwissenschafter und Kurdologe Thomas Schmidinger vergleicht die Situation in Wien mit jener in Deutschland: „In Wien hat die kurdische Community ihre Heißsporne - meistens sind es junge Männer - Gott sei Dank halbwegs unter Kontrolle. In Deutschland gibt es hingegen immer wieder Ausschreitungen.“ In Deutschland attackieren kurdische Gruppen laut deutschem Innenministerium regelmäßig türkische Vereinshäuser mit AKP-Nähe. Güleryüz ist besorgt, dass auch ihren Mitstreitern einmal der Kragen platzen könnte.

Türkei: „Demonstranten sind Terroristen“

Die türkischen Vereine in Wien, wie ATIB, wollen sich zum kurdisch-türkischen Konflikt nicht äußern. „Es gibt keinen Konflikt, sprechen Sie mit der türkischen Botschaft“, sagt ein ATIB-Sprecher. Der Moscheeverein steht aktuell wegen militärischen Inszenierungen mit Kindern in der Kritik - mehr dazu in Moschee: Kinder mussten als Leichen posieren. Die türkische Botschaft stellt in einer schriftlichen Stellungnahme ebenfalls fest, dass es in Wien keinerlei Spannungen zwischen Türken und Kurden gebe.

Gleichzeitig wettert sie gegen die Demonstranten: „Die wenigen Terroristen und deren Unterstützer vertreten in keiner Weise die Kurden. Diese Personen sind Mitglieder von PYD, YPG usw., die als Ableger der PKK, die lediglich eine Marxistisch-Leninistische Terrororganisation ist, verschiedene Aktivitäten durchführen.“ Die „Terroristen“ würden das österreichische Demonstrationsrecht missbrauchen, so die türkische Botschaft. Zudem stellt sie fest: „Die Türkei ist gegen Terror und nicht gegen die Kurden.“

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Die Demonstranten machen kein Geheimnis aus ihrer Nähe zur PKK

Offene Sympathien für die PKK

In der Feykom-Zentrale hängen Flaggen der kurdischen Milizen PKK und YPG. Die Sympathie ist offenkundig, das wird von niemandem bestritten. „Wir sind noch lange keine Terroristen, weil wir mit der PKK sympathisieren“, sagt Güleryüz.

Schmidinger ist ähnlicher Meinung: „Terror definiert sich darüber, dass Anschläge auf weiche, zivile Ziele verübt werden, zum Beispiel Einkaufszentren oder Fußgängerzonen.“ Er will die Vorgehensweise kurdischer Milizen nicht gutheißen, sagt aber: „Nur weil die kurdische Milizen bewaffnete Gewaltaktionen und Guerillaattacken gegen andere, militärische Organisationen durchführen, sind sie noch lange keine Terrororganisation.“

Ein Großteil der westlichen Staaten stuft die PKK jedenfalls als Terrororganisation ein. Sie steht seit 2004 auf der EU-Liste für terroristische Organisationen. Da sie hauptsächlich Spendengelder sammle und in Österreich nur selten offiziell in Erscheinung trete, bewertet sie der Verfassungsschutz aber aktuell als eher ungefährlich.

Viele Wiener Kurden sind Bürgerkriegsflüchtlinge

Was grundsätzlich schwierig ist: ein klares Bild der kurdischen Szene in Wien und Österreich zu zeichnen. Konkrete Zahlen fehlen. Über 15.000 Kurden sollen in Wien, um die 100.000 in Österreich leben. Einige türkische Kurden kamen in den 1960er-Jahren als Arbeitsmigranten nach Österreich, andere später als Kriegsflüchtlinge. Zudem leben iranische, syrische und irakische Kurden in Österreich. Auch sie flohen größtenteils wegen der jeweiligen Bürgerkriege aus ihren Heimatländern.

Laut Angaben der Feykom gehen 500 Kurden im Schnitt jeden Samstag in Wien demonstrieren. Abseits dieser Szene gebe es auch islamisch-konservative Kurden aus der Türkei, die AKP-nahe sind. „Viele dieser Personen leugnen ihre kurdische Identität“, berichtet Schmidinger.

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Viele Vereinsmitglieder der Feykom kamen als Kriegsflüchtlinge nach Wien

„Ethnische Säuberung“ wird befürchtet

Der Wunsch nach einem unabhängigen Kurdistan ist in der politisch aktiven Szene fest verankert. Nachdem das türkische Militär die nordsyrische Stadt Afrin erobert hatte - Mitte März - legte sich der Optimismus wieder. Umso wichtiger findet Güleryüz die Demonstrationen: „Es sind nicht nur Kurden, es solidarisieren sich auch Türken mit uns. Uns unterstützen Linke aus verschiedenen Nationen. Sie sind alle einer Meinung: Es ist ungerecht, einen Genozid in Afrin zu machen und die Kurden dort auszulöschen.“

Buchhinweis

„Kampf um den Berg der Kurden“ von Thomas Schmidinger, Verlag „bahoe books“, 2018

Schmidinger hat soeben ein Buch über die Kämpfe in Afrin veröffentlicht. „Kampf um den Berg der Kurden“, heißt sein Werk. Die Lage in Afrin analysiert er folgendermaßen: „Es werden Tausende kurdische Flüchtlinge daran gehindert, in ihre Dörfer zurückzukehren. In den eroberten Gebieten werden nun andere Menschen angesiedelt, Turkmenen zum Beispiel, die der türkischen Regierung näher stehen.“

Es kursieren vage Berichte über Hinrichtungen kurdischer Milizen - durch das türkische Militär. „Die Kurden haben Afrin verloren und werden weiter zurückgedrängt. Es könnte zu einer ethnischen Säuberung kommen“, sagt Schmidinger. Eine neue Flüchtlingswelle hält er für nicht ausgeschlossen. Der Wiener Kurdologe wird von AKP-Seite immer wieder als „Terrorist“ und „PKK-Propagandist“ bezeichnet.

Michael Hammerl, wien.ORF.at

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