Was macht uns tolerant?

Was macht einen toleranten Menschen aus, wie kann man offener werden? Kommunikationsexpertin Nana Walzer erklärt, warum wir überhaupt über andere urteilen und warum Toleranz bei uns selbst beginnt.

Das Einordnen, Einschätzen, Abschätzen, und damit Urteilen ist an sich ein Mechanismus zur Orientierung in der Welt. Wir alle leben nach verinnerlichten gesellschaftlichen Normen, Werten und sozialen Regeln. Je differenzierter eine Gesellschaft wird, umso mehr unterschiedliche Lebenskonzepte und Urteilsraster stehen einander gegenüber. Lernen wir nicht, mit Vielfalt und Unterschieden konstruktiv umzugehen, so sind wir dazu verdammt, alles und jeden unreflektiert mit unserem eigenen inneren Kompass von Gut und Böse, richtig und falsch, schön und hässlich oder angenehm und unangenehm zu vergleichen. Durch das Urteilen schaffen wir uns einen Überblick darüber, wie ähnlich jemand unseren Vorstellungen ist oder eben wie anders. Würden wir solche Unterschiede wertfrei feststellen – und uns zugleich alle an generell akzeptierte, kulturübergreifende Regeln des Zusammenlebens halten – würden wir tolerant miteinander leben können.

Sendungshinweis:

„Radio Wien am Nachmittag“, 16.11.2016

Wie können wir offener werden?

Tolerant zu sein bedeutet, andere Auffassungen, Meinungen, Einstellungen und Verhaltensweisen gegenüber Achtung oder zumindest Duldung entgegenzubringen. Dazu müssen wir lernen, von den eigenen Erwartungen Abweichendes zu erkennen, ohne zu ver-urteilen. Um die eigenen Werturteile zwar wahrzunehmen, ohne in die Falle der Abwertung zu tappen, brauchen wir zunächst einmal ein ausgewogenes Verhältnis zu uns selbst. Menschen mit ausgeprägtem Selbstwertgefühl sind nicht darauf angewiesen, sich über andere zu stellen, um sich gut (oder besser) zu fühlen.

Sie halten ihre eigene Sicht nicht für die einzig mögliche Sichtweise. Derartig ausgeglichene Menschen beweisen soziale Kompetenz: Sie können wahrnehmen, wie es anderen geht und zeigen Mitgefühl statt Mitleid, Abwehr oder Verdrängung. Es fällt ihnen leichter, andere als das zu erkennen, was sie sind: Menschen aus oder in anderen Umständen. Wenn sich jemand schwierig verhält, so stehen zwar immer Gründe dahinter, diese stimmen jedoch nur selten mit unseren Vorurteilen überein. Die Fähigkeit, sich der Selbstbezüglichkeit der eigenen Urteile bewusst zu sein und die eigene Meinung als relativ zu Zeit, Raum und Kultur zu erkennen, ist ein weiterer Baustein auf dem Weg zur Offenheit. Um offener zu werden ist es sinnvoll, den Umgang mit Unerwarteten zu üben, beispielsweise zu reisen oder sich mit den unterschiedlichsten Menschen auszutauschen.

2 Hände halten links und rechts eine Girlande aus Papierfiguren

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Woran erkennt man einen toleranten Menschen?

Wann ist es besonders schwierig, tolerant zu sein? Wenn sich ein Mensch für uns unangenehm, nicht gemäß unserer Wertvorstellungen, verhält. Von der Norm abweichende Meinungen, Verhaltensweisen, als unangemessen erscheinende Lautstärkenpegel, seltsame Kleidung oder schon eine intensive Körpersprache können unsere Gemütsruhe auf die Probe stellen. Einen toleranten Menschen erkennt man aber nicht nur an seiner Geduld. Er wird versuchen, Hintergründe zu verstehen und zwischen den unterschiedlichen Welten zu vermitteln.

Toleranz bedeutet nicht, dass Grundregeln des Zusammenlebens einfach ignoriert werden können oder Menschen einen Freibrief bekommen, sich rücksichtslos zu verhalten. Toleranz heißt nicht, intoleranten Menschen gegenüber klein beizugeben. Vielmehr gilt es, Toleranz als Grundwert zu verteidigen, im Bedarfsfall eine entsprechend klare Haltung anzunehmen und auf Gemeinsamkeiten in aller Differenz hinzuweisen. Derart tolerante Menschen sind alles andere als blauäugige Gutmenschen, sie handeln gerade im Konfliktfall vorbildhaft. Im Gegensatz zur Gleichgültigkeit, die sich als Toleranz tarnt, setzen sich tolerante Menschen aktiv für die relevanten Werte rund um die Toleranz ein, etwa für Gerechtigkeit, Gleichbehandlung und Meinungsfreiheit.

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Nana Walzer
Nana Walzer: „Die Kunst der Begegnung“