Geiger: „Das ist vergeudetes Leben“

Am Sonntag feiert der Autor Arno Geiger, ein Meister der Erzähl- und Empathiekunst, seinen 50. Geburtstag. Im Gespräch mit wien.ORF.at erzählt er von seinem neuen Roman, dem Sinn des Lebens und wieso er kein Rebell ist.

Arno Geiger muss nicht von der Front berichten um über Krieg zu erzählen. Sein neuer Roman „Unter der Drachenwand“ beschreibt die körperliche Versehrtheit und das noch größere seelische Leid eines jungen Wehrmachtsoldaten, Veit Kolbe. In einem Dorf am Mondsee sucht er die Genese seiner Kriegsverletzungen und findet Hoffnung. Arno Geiger rekonstruiert einfühlsam das kleine Leben in der großen Geschichte.

Geiger wurde am 22. Juli 1968 in Bregenz geboren und wuchs in Wolfurt (Vorarlberg) auf. Er nahm zweimal (1996 und 2004) am Ingeborg-Bachmann-Wettbewerb in Klagenfurt teil. Sein Roman „Der alte König in seinem Exil“ wurde 2011 für den Preis der Leipziger Buchmesse nominiert. 2018 erhielt er den Joseph-Breitbach-Preis. Am Donnerstag las er beim O-Töne-Literaturfestival im MuseumsQuartier aus „Unter der Drachenwand“, davor traf er sich mit wien.ORF.at zu einem Gespräch.

wien.ORF.at: „Unter der Drachenwand“ ist ein schmerzhaftes Buch. Das Leid der Figuren zieht sich wie ein roter Faden durch die Geschichte. Wie fühlt sich das für den Autor an, der die Personen und ihre Gefühle erschafft?

Arno Geiger: Ich leide mit. Ich denke, man sollte nur Bücher schreiben, die an der Gurgel packen. Und das ist so ein Buch. Ich konzipiere mehr, als ich schreibe. Im Konzept bleibt es immer mehr auf Distanz, im Schreibprozess selbst ist es schwer. Erst beim Schreiben fährt Atem und Pulsschlag in meine Figuren. Es ist der Übergang vom Virtuellen zum Körperhaften, der den Effekt des Schmerzhaften erzeugt. Ich musste öfters vom Schreibtisch aufstehen, weil es zu intensiv wurde und um ein bisschen Distanz zu finden. Es ist wichtig einen Ausgleich zwischen Intimität und Distanz zu finden.

Arno Geiger liest bei den O-Tönen

Lisa Edelbacher

Arno Geiger liest bei den O-Tönen im Museumsquartier

wien.ORF.at: Sie haben zehn Jahre für das Buch recherchiert. Zumindest gedanklich haben Sie die Romanfiguren mitgetragen. Was passiert mit den Personen wenn Sie mit dem Schreiben fertig sind?

Geiger: Die Figuren bleiben. Selbst die Figuren aus „Es geht uns gut“, was schon 15 Jahre zurückliegt, sind am Küchentisch präsent. Meine Frau und ich wissen mehr über meine Romanfiguren als über unsere Geschwister. Die erzählen uns das ja nicht in dieser Intimität. Veit, Margot und Oskar Mayer sind wie frühere Bekannte, die man ein bisschen aus den Augen verloren hat, die aber trotzdem noch da sind.

wien.ORF.at: Sicherlich haben Sie auch ein Bild zu den Figuren. Wie könnten Sie Veit äußerlich beschreiben?

Geiger: Unspektakulär. Schlank. Kurze Haare. Ein ernsthafter Mensch, nicht extrovertiert. Keiner, der sich sofort öffnet in vielerlei Hinsicht. Ein Durchschnittsmensch, würde ich sagen.

wien.ORF.at: Die Beschreibung als „Durchschnittsmensch“ würde auf die Protagonisten all ihrer Bücher zutreffen.

Geiger: Ja, weil ich die Mitte viel interessanter finde als die Ränder. Das ist unsere Normalität. Auf das Extrem treffe ich sehr selten und dann ist es meistens langweilig. Im Schatten der Egomanie wächst kein Gras. Extrem ist eigentlich unterkomplex. In der Mitte mischt es sich. Jemanden den man so leichtfertig als durchschnittlich bezeichnen könnte, hat Anteil an so vielem.

wien.ORF.at: Veit Kolbe verliebt sich in der Geschichte. Er möchte alles fühlen und keine Zeit verlieren. Ist das ein Plädoyer gegen das Aufschieben?

Geiger: Ja, wir glauben, dass wir alles planen können und so langfristig und das ist ein großer Fehler. Ich habe in den vergangen Jahren so viele Freunde sterben gesehen und für mich festgestellt: Was man im Leben versäumt, ist das Leben. Das ist ein Kernsatz in der Art, wie ich an Dinge herangehe. Der Sinn des Lebens ist das Leben selbst.

Das weiß Veit Kolbe aufgrund des dunklen Hintergrunds, vor dem er lebt. Das weiß er viel besser als wir heute, die wir glauben, wir haben noch ein paar Jahre Zeit. Wir können eben nicht alles planen. Denn die Form, die wir uns für unser Leben ausgedacht haben, zerbricht immer wieder. Und dann müssen wir das wieder zusammenflicken und in eine neue Form bringen.

Wir müssen ein bisschen offener werden. Ich sehe, wie eng die Menschen planen. Aber im Leben gibt es so viel Willkür und wenn ich eng im Leben plane, bin ich für dieses Unvorhersehbare nicht mehr gerüstet. Die Menschen fallen aus den Schuhen, wenn das Kind kein Maturaniveau hat. Aber wo ist das Problem? Dann ist es eben in etwas anderem begabt, als Dinge auswendig lernen.

wien.ORF.at: Zentral im Roman ist auch die Fremdbestimmung der Menschen durch den Krieg. Sie sind gewissermaßen Opfer ihrer Zeit. Nun leben wir heute in einer vermeintlich freien Zeit, werden wir auch ungefragt in etwas „reingeworfen“?

Geiger: Wir sind viel weniger unabhängig, als wir uns das einbilden. Wir arbeiten zu viel. Wir leisten zu viel. Wir unterstehen einem gewaltigen Optimierungsdruck, äußerlich und innerlich. Der ist ungeheuerlich. Sowas wie Burnout hat es als Phänomen früher nicht gegeben. Wir nehmen diesen gesellschaftlichen Leistungsdruck als selbstverständlich an. Das ist der schiere Wahnsinn und auch wirklich tragisch. Das ist vergeudetes Leben. Wir sind alle Kinder und auch Opfer unserer Zeit. Insofern ist es kein Roman über den Krieg und auch nicht über den Nationalsozialismus - sondern über Menschen.

wien.ORF.at: Im Buch wird auf Sprachbilder des Nationalsozialismus verzichtet. Hitler wird mit F. oder H. abgekürzt. Geht das auch aus diesem Gedanken heraus?

Geiger: Unsere Sprache ist eine so verbrauchte. Heute wird der Begriff Propagandaminister nicht mehr selbstverständlich verwendet, während es früher ein ganz normales Wort war. Die Menschen sagten es ohne an den Holocaust oder die Schrecken dieser Zeit zu denken. Insofern wollte ich auch eine unverbrauchte Sprache. Ich sehe darin die schriftstellerische Herausforderung.

Ich bin empört, wenn ich in Romanen über den Nationalsozialismus mit einer Selbstverständlichkeit diese verbrauchten Wörter lese, nur damit Authentizität erzeugt wird. Als gäbe es keine anderen sprachlichen Möglichkeiten diese Vertrauenswürdigkeit zu evozieren. Dazu brauche ich diese beschissene Sprache nicht.

wien.ORF.at: Sollte man als Schriftsteller mehr wagen?

Immer. Wenn ich nicht mal dazu in der Lage bin, bin ich abbruchreif.

wien.ORF.at: Sie haben sich für das Buch so intensiv mit Krieg auseinandergesetzt. Ist es auch ein bisschen das Trauma ihrer Vorgängergeneration, das sie damit verarbeiten?

Geiger: Nein, ich wollte mein ganz eigenes Buch schreiben als Nachgeborener. Jene, die das selbst miterlebt haben, sind involviert und wer involviert ist geht an eine Sache anders heran als jemand der Distanz hat. Ich habe das als eine Gelegenheit gesehen mich der Sache anzunehmen. Die große Herausforderung war nämlich, dass ich unverkrampft von Menschen im Krieg erzähle, unideologisch.

Das habe ich mich mir – bildlich gesprochen – über den Schreibtisch geschrieben. „Schreib das so unideologisch wie möglich, du bist der Kunst verpflichtet.“ Und Kunst kann nicht aus einer Verkrampftheit gut werden. Das war die große Herausforderung und die große Chance.

wien.ORF.at: Manche Autoren verarbeiten ihre eigenen Geschichten in ihren Romanen. Sie beschreiben sich selbst als Protagonisten. Sie tun das offensichtlich nicht. In „Alles über Sally“ schreiben Sie aus der Perspektive einer 50-jährigen Frau, und in ein „Selbstportrait mit Flusspferd“ geht es um einen desorientierten Studenten. Trotzdem können Sie Befindlichkeiten und Gefühle dieser Figuren detailliert wiedergeben. Wie schaffen Sie diese Nähe?

Geiger: Das ist wahrscheinlich mein besonderes Talent. Jeder Schriftsteller und Schriftstellerin hat ein besonderes Talent und ich habe wohl dieses. Ich habe kein großes Ego. Das kann ich ganz gut beiseitelegen. Das ist eine Frage der Hingabe, der Ausdauer und vor allem der Neugierde. Weil ich gerne mehr über etwas wissen möchte. Über Sally zum Beispiel. Ich wollte mehr über Sally erfahren. Über den Prozess, den ich über mehrere Jahre mit meinen Romanfiguren verbringe realisiert sich das. Ich bin nach dem Schreiben immer klüger als davor.

wien.ORF.at: Schreiben Sie also um zu verstehen?

Geiger: Das Schreiben ist eine Form von Innehalten, bei dem ich hoffe, dass ich mein eigenes Leben besser verstehe. Wir werden oft in einen Schrecken hineingeworfen und ich meine, die Schmerzen des Lebens überwiegen die Freuden deutlich. Aber wenn ich es wenigstens verstehe, dann fällt es mir leichter es zu ertragen. Wenn ich mich orientieren kann, bin ich weniger ängstlich, weil Angst auch eine Form von Unübersicht ist. Darum ist es immer gut wenn man ein wenig Ortskenntnis, in dem eigenen Lebensdurcheinander hat.

Als Veit aus dem Krieg kommt, möchte er in eine friedliche Welt, wie er sagt. Sie leben auch in Wien, sehnen Sie sich auch manchmal nach dieser friedlichen Welt?

Geiger: Dass es am Land friedlicher ist als in der Stadt, ist ein Klischee. Am Land ist es auch nicht leiser, nur weniger heiß. Ich bin gerne in Wien. Sehr gern.

wien.ORF.at: Am Sonntag feiern Sie Ihren 50. Geburtstag. Sie sind im Jahre 1968 geboren sind Sie ein Kind der Revolution?

Geiger: Es gibt bei mir einen anarchistischen Zug. Darum bin ich ein Einmann-Betrieb, ich bin niemanden Rechenschaft schuldig. Auch meine Bücher sind unideologisch und vor allem individuell. Für einen Rebell bin ich zu sehr freier Vogel, als das ich rebellisch wäre. Da bin ich wahrscheinlich auch zu wenig involviert. Also wieder ein bisschen Distanz.

Das Interview führte Lisa Edelbacher, wien.ORF.at

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