Wahlrecht: Vier Jahre Debatte

Das Scheitern an der Wahlrechtsreform in Wien ist der Schlusspunkt einer mehr als vierjährigen Debatte. Am Beginn des rot-grünen Regierungspakts stand noch Optimismus, ein neues Verhältniswahlrecht zu schaffen.

Mai 2010: Fünf Monate vor der Wiener Landtagswahl verpflichten sich die Chefs der drei Oppositionsparteien - Christine Marek (ÖVP), Heinz-Christian Strache (FPÖ) und Maria Vassilakou (Grüne) - per Notariatsakt, nach dem Urnengang im Falle einer Regierungsbeteiligung mit der SPÖ für eine Reform des mehrheitsfördernden Wahlrechts zu kämpfen. Ziel ist, dass künftig die Mandatszahl einer Fraktion möglichst genau ihrem prozentuellen Stimmenanteil entspricht. Damit soll es nicht mehr möglich sein, dass die SPÖ mit unter 50 Prozent an Stimmen die absolute Mandatsmehrheit erreichen kann.

November 2010: Die neue rot-grüne Stadtregierung verpflichtet sich im Koalitionspakt, bis längstens Ende 2012 ein neues „faires Verhältniswahlrecht“ zu erarbeiten und in Gesetzesform zu gießen. Um den beidseitigen guten Willen mit Nachdruck zu demonstrieren, beschließen die beiden Fraktionen in der konstituierenden Sitzung des Gemeinderats zudem einen entsprechenden Antrag. Ein ÖVP-FPÖ-Antrag, der dem Wortlaut des Notariatsakt entspricht, wird abgelehnt - womit der oppositionelle Vorwurf des „grünen Umfallers“ geboren ist.

März 2011: David Ellensohn, Klubobmann der Grünen, kündigt an, dass das Reformpapier schon 2011 fertig verhandelt werden könnte. Im Lauf des Jahres wird klar, dass sich dieses Ziel nicht ausgehen wird.

Februar 2012: Die Koalitionspartner kehren zur ursprünglichen Deadline zurück und visieren eine Einigung bis 2012 an. Als zentraler Hauptknackpunkt gilt inzwischen der künftige Verteilungsschlüssel für Mandate.

August 2012: Rudolf Schicker, Klubobmann der SPÖ, verkündet in einem APA-Interview, dass man sich mit den Grünen „weitestgehend“ einig sei. Bereits paktiert sei neben einer Stärkung der Persönlichkeitswahl unter anderem die Einführung einer Fünfprozenthürde auch auf Bezirksebene. Die Grünen widersprechen postwendend. Der Plan wird schließlich wieder fallengelassen, an einer Einigung bis Jahresende allerdings festgehalten.

Dezember 2012: Die letzte Landtagssitzung des Jahres verstreicht ohne Wahlrechtsbeschluss.

Dezember 2013: Nachdem es monatelang still um das koalitionsinterne Tauziehen ist, zeigt sich Schicker überzeugt, dass das neue Wahlrecht im Jahr 2014 wirklich kommen wird. ÖVP und FPÖ glauben nur noch an ein „Reförmchen“.

September 2014: Ellensohn setzt die nächste Frist. Bis 27. November soll die Reform stehen - ansonsten „wird es Zeit für einen Plan B“. Wie ein solcher ausschauen kann und soll, verschweigt der grüne Klubchef.

November 2014: Rot-Grün räumt ein, dass es 2014 keine Reform mehr geben wird. Von einem „Plan B“ ist keine Rede mehr.

Dezember 2014: Die Grünen wollen den Druck erhöhen und machen ihr Kompromissangebot in Sachen Mandatsverteilung öffentlich. Sie wollen sich mit der SPÖ „in der Mitte treffen“ und schlagen eine Halbierung des mehrheitsfördernden Faktors vor.

Bürgermeister Michael Häupl und Vizebürgermeisterin Maria Vassilakou nach Koalitionsausschuss

ORF

Michael Häupl und Maria Vassilakou nach dem Koalitionsausschuss

Bürgermeister Michael Häupl (SPÖ) ist merklich verstimmt, lässt wissen, dass die Roten nur zu einer Reduktion um ein Viertel bereit sind und beruft ein rot-grünes Krisentreffen - einen der seltenen Koalitionsausschüsse - ein.

Nach Sitzungsende legt das Stadtoberhaupt fest, dass die Wahlrechtsreform bis zur dritten Jänner-Woche stehen soll. Spekulationen, wonach der nicht enden wollende Zwist zum Regierungsbruch führen könnte, weisen Häupl und Vizebürgermeisterin Maria Vassilakou (Grüne) zurück - mehr dazu in Wahlrecht: Reform bis Jänner geplant.

Jänner 2015: Mitte des Monats beruft die FPÖ einen Sonderlandtag ein. Die Opposition drängt die Grünen, gemeinsam gegen die SPÖ ein neues Wahlrecht zu beschließen. Diese winken freilich ab und betonen, dass ein derartiges Vorgehen formal gar nicht möglich sei, da die SPÖ im zuständigen Ausschuss nach wie vor die absolute Mehrheit habe und einen entsprechenden Antrag blockieren könne - mehr dazu in Wahlrecht: Opposition hofft auf Grüne.

Den Ablauf seiner selbst gesetzten Deadline sieht Häupl gelassen. Man habe ja auch die im Koalitionspakt festgeschriebene Frist, 2012, „irgendwie verpasst“, eine Reform wolle er „nicht übers Knie brechen“.

5. Februar 2015: Die Grünen bestätigen auf Twitter aufgetauchte Gerüchte, wonach sich Häupl und Vassilakou auf eine Lösung geeinigt hätten und diese nun nur noch durch die Parteigremien müsse. Demnach werde der mehrheitsfördernde Faktor bei der heurigen Wien-Wahl von eins auf 0,6 und ab dem Urnengang 2020 auf 0,5 gesenkt. Das Problem: Die SPÖ dementiert die Einigung umgehend, es gebe auch keine Gremiensitzung - mehr dazu in Grüne: Einigung bei Wahlrecht - SPÖ dementiert.

10. Februar 2015: Häupl reagiert merkbar verärgert auf das „momentane Verhalten der Grünen“. Er sei „not amused“ über den Bruch des Stillhalteabkommens. Vassilakou kontert, dass die Verhandlungen definitiv abgeschlossen seien und sie nun „den Sack zumachen“ wolle - mehr dazu in Wahltermin: Häupl gibt sich bedeckt.

11. Februar 2015: Vassilakou geht aufs Ganze und stellt der SPÖ ein Ultimatum. Sie wolle bis zum Ende der Woche eine Entscheidung, ein Nein der Roten hätte „weitreichende Konsequenzen“. Häupl lässt die grüne Frist kalt. Er spricht von einer „einseitigen Beendigung“ der Verhandlungen und stellt klar: „Es wird weitergeredet“ - mehr dazu in Vassilakou-Ultimatum lässt Häupl kalt.

David Ellensohn und Georg Niedermühlbichler

APA/Herbert Pfarrhofer

David Ellensohn und Georg Niedermühlbichler geben das Scheitern der Verhandlungen bekannt

13. Februar 2015: Die Koalitionsparteien gestehen ihr Scheitern im Hinblick auf die Wahlrechtsreform endgültig ein. SPÖ-Landesparteisekretär Georg Niedermühlbichler und Ellensohn geben bei einer gemeinsamen Pressekonferenz bekannt, dass man sich nur über die verfassungsrechtlich notwendigen Reparaturen wie etwa Änderungen bei der Briefwahl und dem Wahlrecht für Strafgefangene einig geworden ist - mehr dazu in Wahlrecht: Reform gescheitert.

Die Koalition sehen beide Parteien durch die Causa Wahlrecht nicht gefährdet. Eine Partnerschaft müsse es aushalten, „wenn man sich hin und wieder nicht einig ist“.

14. Februar 2015: Bei der Landesversammlung der Grünen verteidigt Vassilakou die gescheiterte Wahlrechtsreform: „Viereinhalb Jahre haben wir uns mehrfach bewegt und mehrfach einen Kompromiss angeboten“, wobei die letzten Angebote schon „ordentlich wehgetan“ hätten, so Vassilakou - mehr dazu in Grüne: 94 Prozent für Vassilakou.

17. Februar 2015: „Wenn der Koalitionspartner meint, dass er mit ÖVP und FPÖ eher gemeinsame Sache macht als mit uns, dann muss er das selbst verantworten. Ich mache mir nicht den geringsten Vorwurf", reagiert Häupl. Er kündigt an, dass sich die SPÖ bei einem Initiativantrag von Grünen, ÖVP und FPÖ im zuständigen Ausschuss querlegen wird - mehr dazu in Wahlrecht: Häupl kündigt Blockade an.