Alijew-Anklage: Richter hegt Zweifel

Der Richter im Alijew-Prozess um die Entführung zweier kasachischer Banker hat Zweifel an der Doppelmord-Anklage der Wiener Staatsanwaltschaft. Dass diese von der Unbefangenheit der Zeugen in Kasachstan ausgehe, sei „naiv“.

Die Anklage stütze sich „zu einem sehr weiten Teil völlig unreflektiert auf die Zeugenaussagen von Personen, welche mit ihren Familien ständig in Kasachstan wohnhaft sind“, hält Richter Andreas Böhm fest. Deswegen könne „nicht ausgeschlossen werden, dass sie entweder mit den kasachischen Behörden zusammenarbeiten oder von diesen entsprechend unter Druck gesetzt werden“.

Zweifel an kasachischem Beweismaterial

Böhm verweist auf „vor Widersprüchen strotzende Angaben“ einiger Zeugen und bezeichnet die Wiener Staatsanwaltschaft wörtlich als „naiv“, wenn sie meine, Zeugen, die sich in Kasachstan derzeit in Haft befinden und die im Wege einer Videokonferenz vom Wiener Gericht vernommen werden sollen, könnten in ihrer Heimat unbefangen und unbeeinflusst aussagen.

Bedenken äußert Böhm in seinem Beschluss auch „gegen die Zuverlässigkeit der fast ausschließlich aus Kasachstan übermittelten Beweismittel“. Die Zweifel daran hätten sich in der Hauptverhandlung derartig verdichtet, dass hinsichtlich der verbliebenen Angeklagten Alnur Mussayev, früher Chef des kasachischen Geheimdiensts KNB, und Vadim Koshlyak, zuletzt Alijew Sicherheitsberater, von keinem dringenden Tatverdacht mehr gesprochen werden könne.

Rachat Alijew, der Hauptangeklagte in dieser Sache und vormalige kasachische Botschafter in Wien sowie frühere Schwiegersohn des kasachischen Präsidenten Nursultan Nasarbajew, wurde Ende Februar unter nach wie vor nicht restlos geklärten Umständen erhängt in seiner Zelle in der Justizanstalt Wien-Josefstadt aufgefunden - mehr dazu in Alijew: Selbstmord bestätigt.

Manipulierte Aussagen

Böhm äußert in seinem Enthaftungsbeschluss sogar die Vermutung, von Kasachstan zur Verfügung gestellte Rufdaten könnten - wörtliches Zitat - „nachträglich hergestellt“ worden sein. Die entsprechende Annahme habe sich „massiv“ erhärtet. Grundsätzlich sei der Verdacht, kasachische Stellen hätten Beweismittel manipuliert, „nahezu belegt“, so Böhm - mehr dazu in Alijew-Prozess: „Aussagen gefälscht“.

Und weiter: „Dies indiziert in nicht unerheblichem Ausmaß die Behauptung der Angeklagten und des verstorbenen Alijew, dass die beiden Bankmanager in Wahrheit vom kasachischen Geheimdienst getötet wurden und dass der ganze Entführungs- bzw. Mordfall nachträglich konstruiert wurde, um Alijew und ihm nahe stehende Personen auszuschalten“ - mehr dazu in Alijew-Prozess: Zeuge berichtet von Folter.

Ainedter: „Anklage schmilzt wie Butter“

Gegen den elfseitigen Beschluss, mit dem die U-Haft für Mussayev und Koshlyak aufgehoben wurde, hat die Staatsanwaltschaft mit einer 33 Seiten starken Beschwerde bekämpft. Ob es bei der Enthaftung bleibt, muss nun das Wiener Oberlandesgericht (OLG) entscheiden - mehr dazu in Alijew-Prozess: Angeklagte aus U-Haft entlassen.

Für Alijews langjährigen Rechtsvertreter Manfred Ainedter steht indessen fest: „Die Anklage schmilzt wie Butter in der Sonne.“ Es sei „erschütternd“ und „geradezu tragisch“, wenn nach Alijews Ableben der zuständige Richter nun Feststellungen treffe, „die genau das bestätigen, was Alijew immer gesagt hat“, so Ainedter am Freitag.

Opfervertreter weisen Richter-Zweifel zurück

Die Opfervertreter haben Zweifel des vorsitzenden Richters Andreas Böhm an der Anklageschrift zurückgewiesen. In einem am Freitag übermittelten neunseitigen Schreiben nahm die Kanzlei Lansky, Ganzger und Partner (LGP) erneut zu der Entscheidung Stellung, die zur Entlassung der beiden Hauptangeklagten in dem kasachischen Mordfall aus der U-Haft führte.

Die Anwälte des Vereins „Tagdyr“, der die Hinterbliebenen zweier ermordeter Bankmanager vertritt, wiesen etwa die Begründung des Richters für die Enthaftung zurück, nach der die Beeinflussung der kasachischen Zeugen durch die Behörden des diktatorisch regierten Staates nicht ausgeschlossen werden könne. Die Vorwürfe seien nicht neu und auch das Oberlandesgericht (OLG) Wien habe festgestellt, es handle sich dabei um „reine Spekulation“, hieß es von LGP.

Im Bezug auf möglicherweise manipulierte Rufdaten aus Kasachstan heißt es in dem Schreiben der Opferanwälte, in einem Bericht des Bundeskriminalamts vom 30. März 2015 sei von einer „hohen Stimmigkeit der Daten“ die Rede gewesen. Auch habe das OLG bestätigt, dass die den Angeklagten Alnur Mussayev belastenden Rufdaten „offenkundig nicht manipuliert“ seien.

Konsequenzen für den Strafvollzug

In einer Reaktion auf den Fall hat das Justizministerium nun die Meldepflicht im Fall von Selbstmorden und Selbstmordversuchen in Haftanstalten neu geregelt. Künftig muss die in allen Fällen die Staatsanwaltschaft unverzüglich verständigt werden, wenn sich ein Häftling das Leben nehmen will, genommen hat oder es diesen Anschein erweckt.

Ein entsprechender Erlass von Justizminister Wolfgang Brandstetter (ÖVP) ging bereits vor drei bis vier Wochen an alle Justizanstalten, sagte Peter Prechtl, Leiter der Vollzugsdirektion. Bisher sei es von Anstalt zu Anstalt unterschiedlich geregelt gewesen, wer bei Suiziden und Suizidversuchen verständigt wird. Die Neuregelung soll künftig einen rascheren Ablauf einer eventuellen Untersuchung ermöglichen.