Kindesmissbrauch in Psychiatrie: Fülle an Akten

Seit Jahresbeginn untersuchen Forscher die Missbrauchsvorwürfe in der Wiener Kinderpsychiatrie bis in die frühen 1980er-Jahre. Dabei fanden sie eine unerwartet große Fülle an Akten, informierten sie am Donnerstag bei einer Zwischenbilanz.

Die zeithistorisch-sozialwissenschaftliche Aufarbeitung der Missbrauchsvorwürfe erfolgt im Auftrag des Wiener KAV (Krankenanstaltenverbundes) und wurde Anfang 2015 gestartet. Durchgeführt wird sie von einem fünfköpfigen Team des Instituts für Rechts- und Kriminalsoziologie (IRKS) unter der Leitung von Hemma Mayrhofer. Ein Endbericht soll im Juni 2016 vorliegen.

Zum Thema wurde die Wiener Kinderpsychiatrie, nachdem 2013 Berichte über Missbrauch an geistig und mehrfach behinderten Kindern und Jugendlichen aufgetaucht waren. Dabei ging es um Menschen, die im Pavillon 15 des einstigen Krankenhauses am Steinhof und heutigen Otto-Wagner-Spitals sowie in der damaligen Abteilung für entwicklungsgestörte Kinder am Neurologischen Krankenhaus am Rosenhügel, im sogenannten Pavillon C, untergebracht waren - mehr dazu in KAV prüft Steinhof-Vorwürfe.

Weitere Zeitzeugen gesucht

Die Forscher des IRKS bitten Menschen, die bereit sind, über ihre Erinnerungen an den Pavillion 15 oder an die ehemalige Abteilung für entwicklungsgestörte Kinder zu sprechen, sich bei ihnen zu melden. Die Interviews werden anonymisiert und vertraulich behandelt, auch ein unverbindliches Vorgespräch ist möglich. Kontakt: 01/526151620, hemma.mayrhofer@irks.at

Forschungszeitraum ausgeweitet

In der ersten Projektphase war das Forscherteam überwiegend mit der Suche nach den Patientenakten beschäftigt, die in überraschender Fülle vorhanden sind und sogar bis in das Jahr 1947 zurückreichen, sodass der zu erforschende Zeitraum ausgeweitet wurde. Allerdings sind die Akten innerhalb des Otto-Wagner-Spitals rein alphabetisch geordnet. Jene, die damalige Kinder und Jugendliche im Pavillon 15 betreffen, müssen daher erst herausgesucht werden.

„Wir haben bis jetzt etwa 100 Akten erschlossen“, sagte Mayrhofer am Donnerstag. Diese enthalten ausführliche Dokumentationen zu Diagnosen, Therapien und auch zum familiären Hintergrund der Betroffenen. Im Pavillon 15 wurden 400 bis 500 Menschen betreut. Im Pavillon C gab es ungefähr 100 Betten, die die meiste Zeit über belegt waren, sagte die Leiterin des Forscherteams. Auch dort sind viele Akten vorhanden, die aber überhaupt nicht systematisch archiviert wurden und weniger Details enthalten als jene, die Menschen im Pavillon 15 betreffen.

Neun ehemalige Patienten befragt

In der Einrichtung am früheren Steinhof, die laut Mayrhofer als Endstation gilt, seien fast ausschließlich Kinder und Jugendliche aus Wien untergebracht gewesen. In der Abteilung für entwicklungsgestörte Kinder am Rosenhügel wurden Patienten aus ganz Österreich behandelt, darüber hinaus Kinder und Jugendliche aus Griechenland und dem arabischen Raum.

„Fesselnd, berührend und zum Teil erschütternd“ seien die Geschichten der einzelnen Personen, sagte Mayrhofer. Bis jetzt wurden neun ehemalige Patienten sowie 15 Angehörige befragt. „Für viele ist es schwierig, über das Thema zu sprechen“, sagte die Wissenschafterin. Manche wollten sich überhaupt nicht äußern, andere wieder sind nicht in der Lage, verbal zu kommunizieren. Über den Inhalt der Berichte gab Mayrhofer unter Hinweis auf die vorläufig zu geringe Zahl der Interviews keine Angaben.

Groß sei die Bereitschaft des ehemaligen Personals am Rosenhügel, sich für Interviews zur Verfügung zu stellen, sagte Mayrhofer. Demgegenüber suchen Forscher noch frühere Mitarbeiter, die im Pavillon 15 am Steinhof tätig waren. In der nächsten Projektphase erfolgen weitere Interviews und die Auswertung der Patientenakten. Im Endbericht sollen einige Patientenschicksale anonymisiert exemplarisch dargestellt werden.

Volksanwaltschaft: „Positiver Eindruck“

Die Volksanwaltschaft begrüßte den Zwischenbericht am Donnerstag in einer Aussendung. Der dargestellte Forschungsverlauf mache einen sehr positiven Eindruck, es dürfe eine fundierte und professionelle Projektstudie zu diesem besonders dunklen Kapitel der Psychiatriegeschichte in Österreich erwartet werden, wird Volksanwalt Günther Kräuter zitiert.

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