Mariahilfer Straße: „Todesstoß und Segen“

Die Neugestaltung der Mariahilfer Straße polarisiert noch immer. Gegner und Befürworter der Fußgängerzone finden sich vor allem in den Nebenstraßen, wie etwa der Kirchengasse. Die gilt mittlerweile als Treffpunkt der „hippen Szene“.

In den vergangenen Jahren hat sich die Kirchengasse zu einem Treffpunkt für Designer, hippe Lokale und alternative Mode entwickelt. Geht man die Mariahilfer Straße stadtauswärts und biegt beim Gerngross rechts ab, steht man am Beginn einer sich ständig verändernden Einkaufsstraße im siebten Bezirk. Die Geschäfte, die man hier findet, könnten nicht unterschiedlicher sein, wie auch ihre Einstellung zur neuen Mariahilfer Straße beweist.

Nach über 115 Jahren ist Schluss

Die Kirchengasse hat schon einige Veränderungen durchgemacht. Eines der ältesten Geschäfte ist der Blumenladen von Renate und Erwin Naderer. Der Betrieb in der Nähe des Siebensternplatzes besteht seit mehr als 115 Jahren und hat viele Entwicklungen miterlebt. Mit dem U-Bahn-Bau in der Mariahilfer Straße 1993 begann laut Renate und Erwin Naderer der Abstieg für die Geschäfte der Kirchengasse. Die Fußgängerzone auf der Mariahilfer Straße verpasste ihnen jedoch den „Todesstoß“.

Das Blumengeschäft könne sich nur noch durch die Lieferungen finanzieren, die mit dem Auto durchgeführt werden. Die Parkplätze sind jedoch besonders knapp seit den Umbauten, erzählen sie. Stammkunden hätten sie nur noch wenige und die Laufkundschaft bringt zu wenig Umsatz. Für sie wirkt es, als würde die Gegend totgeplant und deswegen „machen wir das fünf Jahre noch, dann ist Schluss". Damit folgen sie einer Vielzahl an alteingesessenen Unternehmen.

Kirchengasse Wien

ORF/Matthias Lang

Die Kirchengasse hat ihren Namen von der Mariahilfer Kirche

Man muss sich von den Ketten abheben

Auch im Elektrofachgeschäft Atzler wurde ein Kundeneinbruch nach dem Umbau bemerkt. Der Betrieb ist seit 60 Jahren in der Kirchengasse direkt gegenüber vom Gerngross. Es hat den Neubau und Brand des Kaufhauses miterlebt, genauso wie den Bau der U-Bahn. Doch an Aufhören denkt man dort eher nicht. Das Geschäft wirkt wie aus einer vergangenen Zeit, bietet allerdings Waren und Leistungen, die man bei Großhandelsketten nicht bekommt.

Der Kundenstamm generiert sich durch Mundpropaganda. Waren die Kunden bis vor wenigen Jahren vor allem „biedere Bürger“, wie die Verkäuferin erklärt, sind es mittlerweile auch die „bezirkstypischen Grün-Alternativen“. Für den Erfolg in der Kirchengasse ist es wichtig, sagt sie, dass die Geschäfte sich von den Ketten auf der Mariahilfer Straße abheben. Eine Einschätzung, die sie durchaus mit ihren jüngeren Kollegen in der Gasse teilt.

Wenige Leerstände

Jüngere Kollegen, wie Manfred Lindner, dem das Modegeschäft Disaster Clothing gehört. Ursprünglich in der Burggasse beheimatet, befindet sich das Geschäft seit 1998 in der Kirchengasse. In den Anfangsjahren war es schwer, denn für lange Zeit war Disaster Clothing das einzige Modegeschäft. Mittlerweile hat sich das geändert, wie Lindner erzählt: „Viele suchen Geschäfte in der Kirchengasse, aber es gibt selten Leerstände.“ Er freut sich über neue Geschäfte, denn damit verbunden sind immer neue Kunden.

Auch wenn Lindner die Entwicklung der Gasse insgesamt positiv sieht, denkt er, dass der Straße eine schwierige Zukunft bevorsteht. Ende des Jahres werden Probebohrungen für die neue Streckenführung der U2 durchgeführt. Das könnte Probleme für die Geschäfte machen, denn „Einzelgeschäfte haben einen kürzeren Atem als die Ketten auf der Mariahilfer Straße“.

Kirchengasse Wien

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Der 13A ist ständiger Begleiter der Geschäftsleute

Kunden, die „off-spaces“ suchen

Die Großhandelsketten interessieren Modedesignerin Ulrike Kogelmüller-Galos wenig. Sie denkt, dass eine Abgrenzung von den Ketten automatisch passiert. Für ihr Modelabel ulliKo produziert sie nachhaltige Kleidung. Auch sie merkte in den ersten Monaten der Umbauphase einen Kundenrückgang. Doch die Kunden, die früher mit dem Auto anreisten, kamen zurück, eben mit den öffentlichen Verkehrsmitteln.

Für Matthias Grieder, Besitzer der Galerie Zeitvertrieb, ist die Umgestaltung der Mariahilfer Straße überhaupt kein Problem gewesen. Er hat seine Galerie, die er gleichzeitig als Büro verwendet, seit 2005 in der Kirchengasse. In unregelmäßigen Abständen finden Ausstellungen statt, sein Haupteinkommen macht er allerdings als Grafiker. Er hofft trotzdem, dass die Bedingungen für Fußgänger weiter verbessert werden. Grieder ist der Meinung, „wenn man sich als Fußgänger wohlfühlt, geht man eher in Geschäfte und kauft dort ein.“

Besonders schätzt er die Variation bei Geschäften in der Gegend. Seit er in der Kirchengasse arbeitet, sind die Leerstände kontinuierlich weniger geworden. Die Besucher seiner Galerie sind einerseits Touristen, andererseits ein „alternatives“ Publikum, das „absichtlich die off-spaces sucht“. Die Galerie befinden sich jedoch im unattraktiveren Abschnitt der Kirchengasse, nach dem Siebensternplatz. Die Kunden würden generell eher den Bereich zwischen Mariahilfer Straße und Siebensternstraße ansteuern.

Kirchengasse Wien

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Der Abschnitt Mariahilfer Straße bis Siebensternplatz lockt mehr Kunden an

Wien braucht Veränderung

Ein Bereich, in dem sich Karin Ginzel mit ihrem Lokal treubleiben im Mai des vorigen Jahres angesiedelt hat. Die Wahl fiel schnell auf die Kirchengasse, auch wenn sie durchaus in mehreren Bezirken geschaut hat. Dass in den vergangenen Jahren etliche Betriebe an diesem Standort zusperrten, stört sie nicht. „Ich habe mit dem Besitzer von ‚Herr und Frau Klein‘ (Anm. Modegeschäft in der Kirchengasse) um eine Kiste Bier gewettet, dass ich es länger als ein Jahr aushalte. Im Mai hol‘ ich mir meinen Gewinn.“

Ginzel meint, die Kundenverluste durch die Fußgängerzone seien gering. „Allerdings führe ich ein Lokal, in dem Alkohol getrunken wird. Da fährt niemand mit dem Auto.“ Sie hofft auf eine Verbreiterung der Gehsteige, dann müsste sie nicht Parkplätze für den Schanigarten anmieten. Generell versteht sie die Kritik mancher Geschäftsleute nicht, für sie braucht eine moderne Stadt Veränderung: „Man kann Wien ja nicht für immer so lassen, wie es ist.“

Matthias Lang, wien.ORF.at

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