Psychologin: Schaulustigen fehlt Empathie

Nach dem tödlichen Straßenbahnunfall hat das Verhalten der Schaulustigen für Bestürzung gesorgt. Die Psychologin Brigitte Lueger-Schuster von der Universität Wien sieht die Probleme vor allem in der Anonymität der Großstadt.

Rund zwei- bis dreihundert Menschen filmten und fotografierten den Straßenbahnunfall in Simmering am vergangenen Donnerstag. Bei Polizei und Feuerwehr sorgte das Verhalten für Aufregung - mehr dazu in Nach Unfall: Polizei warnt Schaulustige. Brigitte Lueger-Schuster, stellvertretende Leiterin des Instituts für Angewandte Psychologie an der Universität Wien, sieht mehrere Gründe für dieses Verhalten.

wien.ORF.at: Bei dem Unfall wurden eine Schwangere und ihr ungeborenes Kind getötet. Wie kann man die Reaktion der Schaulustigen, die ihr Handy gezückt haben, erklären?

Brigitte Lueger-Schuster: Vor allem sozialpsychologisch. Da gibt es einen Effekt, der heißt Bystander-Effekt oder Zeugen-Effekt. Der ist in den USA bekannt geworden, wo Menschen der Ermordung einer Frau 38 Minuten zugesehen haben und niemand hat geholfen. 38 Minuten ist lang.

Daraus haben sich mehrere Studien entwickelt, die besagen: Je mehr Menschen sich versammeln, desto stärker wirkt die Gruppendynamik und desto größer wird die Anonymität - und desto weniger verstehen Leute, dass sie Verantwortung haben. Nämlich Verantwortung Hilfe zu ermöglichen, statt zu verhindern. Die Gruppe anonymisiert die Menschen.

Dazu gibt es dann noch weitere Studien, die besagen, dass Hilfeleistung in der Großstadt an sich ein viel größeres Problem ist. Das machen lediglich 15 Prozent im Vergleich zum Land, wo 50 Prozent Verantwortung übernehmen und etwas tun.

wien.ORF.at: Gibt es diesen pietätvollen Abstand nicht mehr, den man früher vielleicht doch eher genommen hat bei solchen Ereignissen?

Lueger-Schuster: Für mich hat das etwas damit zu tun, dass man sich plötzlich fühlt wie im Reality-TV, wo man überhaupt nicht mehr versteht, dass das Realität ist und man sich eigentlich schnellstens verkrümeln soll, um Menschen, die verantwortungsvoll Hilfe leisten auch einfach machen zu lassen. Offensichtlich gibt es diesen Abstand dann nicht mehr in diesen Situationen.

wien.ORF.at: Bei Terroranschlägen zücken Menschen angeblich ihr Smartphone, um das Geschehene zu verarbeiten. Stimmt das?

Lueger-Schuster: Das Handyzücken ermöglicht in der Folge Verarbeitung. Wenn man das für sich festgehalten hat, dann hat man danach eine Geschichte. Es ist natürlich gut, wenn man so eine Terrorattacke überlebt hat, dass man das zu einer eigenen Geschichte für sich machen kann, weil dann ist sie integrierbar in das eigene Gedächtnis und wird dadurch langsam zu einer erträglichen Erinnerung.

Die Situation da draußen war natürlich eine andere, weil die hat eine Frau betroffen - und das haben sich viele angeschaut. Das ist für mich eher dieses ‚niemand ist mehr zuständig‘ und ‚keiner ist verantwortlich‘ - es gibt dann einen Neugiereffekt, die Gruppendynamik macht die Leute stark. Deswegen sind sie auch nicht zurückgegangen. Es fehlt einfach an Empathie.

wien.ORF.at: Wenn man auf wenige Zentimeter hingeht zu einer schwerverletzten Frau oder einer Leiche - ist das noch normal?

Lueger-Schuster: Was ist normal? Ich selber finde das äußerst unschön, wenn das Menschen tun. Das ist aber offensichtlich passiert und es ist wirklich so ein Stück Reality-TV, das plötzlich passiert und dann hat man das am eigenen Handy. Sensation! Cool, geil!

wien.ORF.at: Ist das eine Milieu- oder Bildungsfrage? Oder gibt es Menschen, die das eher machen?

Lueger-Schuster: Ich glaube nicht, dass das milieuabhängig ist. Das ist eher erziehungsabhängig, das ist das, was Menschen gelernt haben im Umgang mit anderen. Je mehr Menschen sich ansammeln, desto eher verschwindet man und hat für überhaupt nichts eine Zuständigkeit. Man ist einfach nur eine Masse.

wien.ORF.at: Es gibt Medien, die für so genannte Leserfotos bezahlen. Hat das einen Einfluss auf das Fotografieren von tragischen Ereignissen?

Lueger-Schuster: Das kann ich mir gut vorstellen, weil wer will nicht gerne einmal seine fünf Minuten Ruhm haben. Wenn das eigene Foto dann in einer Zeitschrift oder Zeitung drinnen ist, kann das eine Motivation werden. Auch Social Media ist sicher eine Motivation, sich so zu verhalten - und macht auch gedankenlos, weil das macht sowieso ein jeder.

Das Gespräch führte Florian Kobler, wien.ORF.at

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