Wissenschaft

Nisko-Deportationen: DÖW sucht Dokumente

Vor 80 Jahren sind die ersten Deportationen von Juden aus Wien durchgeführt worden – in die polnische Kleinstadt Nisko. Das Dokumentationsarchiv des österreichischen Widerstands (DÖW) sucht derzeit Fotos, Briefe und Dokumente von Betroffenen.

Fast 1.600 Männer wurden im Oktober 1939 aus Wien nach Nisko deportiert. Mit dem Projekt „Nisko 1939: Online-Edition zur ersten Massendeportation aus Wien“ will der DÖW das Schicksal dieser Menschen nun sichtbar machen. Fokussiert wird dabei zunächst auf jene Personen, die im Lager in Nisko untergebracht waren und nach dessen Schließung nach Wien zurückgekehrt waren.

Von den Toten und Überlebenden, die in die Sowjetunion vertrieben wurden, sind bisher erst wenige Namen bekannt. Deren Erforschung obliegt einem künftigen Forschungsprojekt des DÖW, das in Kooperation mit in- und ausländischen Forschungseinrichtungen durchgeführt werden soll.

DÖW bittet Familien und Freunde um Hilfe

Um Biografien der Betroffenen erstellen zu können, ist das DÖW neben Recherchen in Archiven auch darauf angewiesen, Fotos, Briefe, Dokumente von Angehörigen, Bekannten und Freunden zu bekommen. Projektleiterin Claudia Kuretsidis-Haider hofft auf neue Informationen und Unterlagen. Ziel ist dann die Erstellung einer frei zugänglichen Online-Dokumentenedition zu den bisher einer breiten Öffentlichkeit in Österreich kaum bekannten Deportationen nach Nisko.

Zwei Züge aus Wien im Oktober 1939

Am 20. Oktober 1939 fuhr der erste Deportationszug mit 912 Personen vom Wiener Aspangbahnhof nach Nisko ab. Am 26. Oktober folgte der zweite Zug mit 672 Personen. Nach „Anschluss“ Österreichs ans Deutsche Reich 1938 wollten die Nationalsozialisten die Juden so schnell wie möglich loswerden. Zunächst wurde ihre Flucht in andere Länder beschleunigt, nachdem sie zuvor diskriminiert und ausgeraubt wurden. Dann kam die Idee eines „Judenreservats“ im eben erst besetzten Polen auf. Aus dem ganzen deutschen Einflussgebiet sollten die Juden hingeschickt werden.

Die Israelitische Kultusgemeinde (IKG) in Wien wurde aufgefordert, Listen mit arbeitsfähigen Männern ohne großes Vermögen vorzulegen, bevorzugt Handwerker. Im Herbst 1939 waren noch rund 66.000 Juden erfasst, der Großteil der jüdischen Bevölkerung war bereits geflüchtet. Manche meldeten sich tatsächlich mehr oder weniger freiwillig, denn es gab bereits komplettes Berufsverbot für Juden. Sie dachten, sie könnten in Nisko zumindest in Frieden und von eigener Arbeit leben.

Geld und Gepäck geraubt

Die Leute konnten bis zu 50 Kilogramm Gepäck mitführen. Ein Teil ihres Geldes wurde ihnen während der Zugfahrt geraubt, unter dem Vorwand dass es umgewechselt werden müsse. Auch ihre Pässe wurden ihnen abgenommen. Angekommen in Nisko mussten sie in den Vorort Zarzecze marschieren. Dort wurden aber nur 200 der Wiener Juden ausgesucht, um das Lager zu errichten. Die übrigen wurden sofort mit Waffengewalt in die umliegenden Wälder vertrieben. Sie sollten doch in die Sowjetunion gehen, hieß es.

Das Gepäck wurde vielen von den Nazi-Wachleuten oder ihren Hilfskräften geraubt. „Einer hat nicht wollen vom Platz gehen, den haben sie erschossen, einer von uns, ein junger Mensch mit 18, 19 Jahr“, erinnerte sich Leopold Sonnenfeld, einer der überlebenden Wiener Juden. Nach einigen Tagen in den Wäldern auf der Flucht vor den Nazis habe man in der Nacht mit Hilfe von Schleppern den Grenzfluss San überquert.

1940 kehrten 198 Männer nach Wien zurück

Dort mussten die sowjetischen Grenzbeamten zuerst klären, ob sie überhaupt einreisen durften, erschöpfte Männer aus Wien ohne Ausweise und ohne Gepäck. Die Sowjets verdächtigten sie der Spionage. Zwar wurden sie dann hineingelassen, fanden jedoch im Grenzgebiet keine Zuflucht. Nach dem Überfall der Nazis auf Polen war die Lage dort chaotisch, tausende Flüchtlinge waren unterwegs. Viele Wiener Juden schlugen sich weiter bis zur Stadt Lemberg durch, wo damals eine große jüdische Gemeinde lebte.

Insgesamt wurden rund 3.900 Menschen nach Nisko bzw. Zarzecze deportiert. Die dort Verbliebenen mussten mit unzureichenden Mitteln selber ein Lager aufbauen. Die Nazis ließen den Plan eines großen „Judenreservats“ aber bald fallen, einerseits wegen mangelhafter Planung und auch wegen des Widerstands des Generalgouverneurs. Von festgehaltenen Männern kehrten im Frühjahr 1940 nach Auflösung des Lagers 198 Personen nach Wien zurück. Viele wurden jedoch später in anderen Vernichtungslagern ermordet.

Schicksal der meisten nicht bekannt

Von den aus Nisko in die Sowjetunion geflüchteten Wienern wurden viele vom Geheimdienst NKWD verfolgt und in sowjetische Zwangsarbeitslager gesperrt, denn sie waren als Ausländer und Juden sowie wegen ihrer Kontakte in ihre Heimatländer gleich mehrfach verdächtig. Diejenigen, die in Lemberg und Umgebung blieben, fielen nach dem Angriff des Deutschen Reichs auf die Sowjetunion im Juni 1941 zum großen Teil den SS-Einsatzgruppen zum Opfer. Das genaue Schicksal ist bei den meisten nicht bekannt.