Opfer vor Kinderheim Wilhelminenberg
APA/Herbert Neubauer
APA/Herbert Neubauer
Chronik

Missbrauch in Heimen: Kritik an Verjährung

2.400 ehemalige Wiener Heimkinder, die zwischen 1945 und 1999 misshandelt worden sind, sind mit Geld entschädigt worden. Ein Anwalt fordert nun, dass die „Verjährung“ überarbeitet wird, um auch die Täterinnen und Täter zur Rechenschaft ziehen zu können.

Systematische, schwere Misshandlung, Folter und Sadismus: Davon ist die Rede im Endbericht, der die dunkle Geschichte der Wiener Erziehungsheime im Zeitraum von 1945 bis 1999 aufarbeitet. 2.400 ehemalige Heimkinder meldeten sich und wurden mit insgesamt 52 Millionen Euro entschädigt.

Rechtsanwalt Johannes Öhlböck vertritt kostenlos 50 ehemalige Heimkinder. Zusätzlich zu der Entschädigung wollte er Schadenersatz und Schmerzensgeld von den Täterinnen und Tätern erreichen. Doch diese Verfahren wurden wegen Verjährung abgewiesen: „Es ist in der Verantwortung der Stadt Wien, die weiteren Heime zu untersuchen und auch zu sagen: ‚Es ist in unseren Heimen passiert. Wir setzen uns bei der Bundesgesetzgebung dafür ein, dass die Verjährung überarbeitet wird.‘ Das würde ich von der Stadt Wien erwarten.“

„Thema“-Beitrag: Gerechtigkeit für Heimkinder

„Wir waren wie im Gefängnis“, erzählt Romana Schwab. Die 64-Jährige ist eines von fast 2.400 Gewaltopfern, die die Stadt Wien mit insgesamt 52 Millionen Euro entschädigt.

Opfer schweigen aus Scham

Der Abschlussbericht des Weissen Rings dürfe nicht das Ende sein, fordern auch ehemalige Heimkinder. Vor allem weil der Zugang zu kostenfreier Psychotherapie seit 2016 nicht mehr möglich ist. Das sei problematisch, weil sich viele Opfer erst sehr spät dazu entschließen würden sich zu melden, sagte Psychotraumatologin Brigitte Lueger-Schuster gegenüber dem ORF-Magazin „Thema“: „Weil sie sich paradoxerweise sehr dafür schämen, was ihnen passiert ist. Wir wissen bei den Opfern der katholischen Kirche, dass sie im Schnitt 25 Jahre ab dem Erwachsenenalter geschwiegen haben. Und wir kennen welche, die bis heute schweigen.“

Viele Heime nicht untersucht

Betroffene kritisieren zudem, dass die Geschichte der meisten Heime – bis auf Schloss Wilhelminenberg – nicht aufgearbeitet sei. Dabei würden viele noch leben, die damals für die Übergriffe verantwortlich gewesen seien. „Es gab nur vereinzelt Strafanzeigen gegen Erzieherinnen und Erzieher, die meistens ad acta gelegt wurden, zu einem Zeitpunkt, als sie noch nicht verjährt waren", sagte Journalist Georg Hönigsberger. "Erzieher, die mit brutalster Hand durchgegriffen haben, sind mit Belobigungen in Frühpension geschickt worden.“

Hilfe für Heimopfer

Die Volksanwaltschaft möchte Betroffene darauf hinweisen, dass Entschädigte aus Wien eine Heimopferrente beantragen können. Auch andere Möglichkeiten für eine Entschädigung können geprüft werden.

„Habe geglaubt, meine Schwester stirbt“

Eva L. kam im Alter von acht Jahren in das Kinderheim Schloss Wilhelminenberg in Wien. Hierher schickte die Stadt Wien Kinder, um sie aus desolaten Verhältnissen zu retten. 2011 ging Eva L. erstmals an die Öffentlichkeit. Sie erzählte, wie Erzieherinnen und Erzieher in den 1970er Jahren mit Kindern umgingen. Zur Begrüßung sei ihnen etwa gesagt worden, „dass sie uns bespucken und auf uns hinschlagen, weil wir nichts wert sind auf dieser Welt“.

Auch ihre Schwester Julia kam in das Heim Wilhelminenberg, sie war damals sechs Jahre alt. Eine Erzieherin war bei den Mädchen besonders gefürchtet: „Ich seh noch, wie meine Schwester qualhaft geschlagen wird. Sie hat geschrien, und ich hab geglaubt, sie stirbt. Ich hab immer geglaubt, die bringt meine Schwester wirklich um.“

Mit weniger Betroffenen gerechnet

Berichte von Übergriffen gab es zwar seit Jahrzehnten, doch niemand glaubte den Heimkindern. Erst 2010 beauftragte die Stadt Wien die Opfervertretung Weisser Ring mit der Aufarbeitung. Seit der vergangenen Woche liegt der Abschlussbericht vor. Rund 2.400 Opfer bekamen im Schnitt 17.700 Euro Entschädigung und kostenlose Psychotherapie. Anfangs habe man mit deutlich weniger Betroffenen gerechnet, sagte Weisser-Ring-Präsident Udo Jesionek. „Ich fasse es immer noch nicht, was in diesen Tätern bzw. Menschen vorgeht. Wie man andere so quälen kann, aus reinem Sadismus.“

Betroffene berichten von sexuellen Übergriffen, davon, dass Kinder Erbrochenes essen mussten, dass sie schmutzige Unterhosen in den Mund gestopft bekamen. Warnungen von Psychoanalytiker August Aichhorn in den 1970er Jahren wurden ignoriert. Er sprach von Sadismus, Isolation von der Außenwelt, autoritärer Disziplinierung und Triebunterdrückung. 1975 wurde empfohlen, 14 Heime der Wiener Jugendwohlfahrt sofort zu schließen. Passiert ist damals so gut wie nichts.