Zerschnittenen Porträtfotos von Überlebenden der NS-Verfolgung am an der Wiener Ringstrasse
APA/Lukas Huter
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Chronik

Antisemitische Vorfälle nehmen zu

Der Antisemitismusbericht für das Jahr 2019 verzeichnet insgesamt 550 Vorfälle in Österreich. Das entspricht einer Steigerung von 9,5 Prozent binnen zwei Jahren und mehr als einer Verdoppelung binnen fünf Jahren.

Knapp die Hälfte der 550 Meldungen ist eindeutig dem rechtsextremen politischen Umfeld zuordenbar. Erhoben werden die Vorfälle von der Israelitischen Kultusgemeinde (IKG) Wien und dem Forum gegen Antisemitismus (FgA). Waren es 2008 lediglich 46 Meldungen, liegt man seit dem Jahr 2017 mittlerweile über der Schwelle von 500.

Zurückzuführen ist das sowohl auf einen tatsächlichen Anstieg von judenfeindlichen Aktionen als auch auf ein gesteigertes Bewusstsein, antisemitische Vorfälle zu berichten. Dennoch gibt es eine Dunkelziffer.

Antisemitische Vorfälle nehmen zu

Der Antisemitismusbericht für das Jahr 2019 verzeichnet insgesamt 550 Vorfälle in Österreich. Das entspricht einer Steigerung von 9,5 Prozent binnen zwei Jahren und mehr als einer Verdoppelung binnen fünf Jahren.

Vorfälle in Wien: 43 Prozent „verletzendes Verhalten“

Die Definition von Antisemitismus richtet sich – wie mittlerweile in vielen Institutionen – nach jener des European Monitoring Centre on Racism and Xenophobia (EUMC): „Antisemitismus ist eine bestimmte Wahrnehmung von Juden, die sich als Hass gegenüber Juden ausdrücken kann. Der Antisemitismus richtet sich in Wort und Tat gegen jüdische oder nicht jüdische Einzelpersonen und/oder deren Eigentum sowie gegen jüdische Gemeindeinstitutionen und religiöse Einrichtungen.“

43 Prozent der 2019 gemeldeten Vorfälle in Wien betrafen „verletzendes Verhalten“, zum Beispiel Beschimpfungen. Einen weiteren großen Anteil von 38 Prozent machten „Massenzuschriften“ aus, wobei auch Inhalte im Internet mitgerechnet wurden. In 14 Prozent der Fälle kam es zu Sachbeschädigung wie Beschmierungen. 18-mal (drei Prozent) wurden Bedrohungen verzeichnet, sechsmal (ein Prozent) kam es tatsächlich zu einem dokumentierten körperlichen Angriff.

Grafik zu antisemitische Vorfällen in Österreich
Grafik: APA/ORF.at; Quelle: IKG

Fälle ideologisch oft schwer zuordenbar

Ideologisch sind die Fälle oft schwer zuordenbar. 226-mal konnte man die Fälle auf gar keine politische Haltung zurückführen. Die Mehrheit machen noch immer eindeutig rechtsextrem motivierte Taten aus (268), dabei handelt es sich hauptsächlich um Sachbeschädigungen und Beschimpfungen. 31 Meldungen betrafen im vergangenen Jahr Vorfälle mit islamischem Hintergrund, 25-mal kamen die antisemitischen Angriffe von politisch linker Seite.

„Österreich ist keine Insel, die Zunahme antisemitischer Vorfälle ist leider in ganz Europa zu beobachten“, kommentierte IKG-Präsident Oskar Deutsch den aktuellen Bericht gegenüber der APA. Der Kampf gegen Antisemitismus sei dabei keine jüdische Aufgabe, sondern eine für die gesamte Gesellschaft. „Die Statistik für 2019 zeigt uns, dass jetzt wirklich die Zeit zum Handeln gekommen ist“, so Deutsch.

IKG befürchtet Anstieg durch Coronavirus-Krise

Die Coronavirus-Krise könnte einen weiteren Anstieg der Vorfälle mit sich bringen, befürchtete IKG-Generalsekretär Benjamin Nägele im Gespräch mit der APA. Er warnte davor, dass Judenhass in der Mitte der Gesellschaft ankommen könnte. In den vergangenen Jahren waren es Ereignisse wie Entwicklungen im Nahost-Konflikt, die Terroranschläge vom 11. September und die Finanzkrise, die vermehrt zu antisemitischen Vorfällen geführt haben. Klassische antisemitische Verschwörungsmythen – Stichwort „Brunnenvergifter“ – würden aber auch in der derzeitigen Pandemie vermehrt bedient, beobachtet der IKG-Generalsekretär.

Judenfeindliche Aktionen bei „Hygienedemos“

Vor allem bei den „Hygienedemos“ gegen die Coronavirus-Maßnahmen kommt es derzeit vermehrt zu judenfeindlichen Aktionen. Diese ließen sich auch nicht den klassischen Kategorien zuordnen wie politisch rechts oder links motiviert. Denn auch in der Esoterikszene und etwa unter Impfgegnern wachse die Empfänglichkeit für Stereotype. „Es zeigt, wie gefährlich dieses antisemitische Virus ist“, so Nägele, der in der Problematik eine große Herausforderung sieht. So hatten einige Demobesucher etwa Judensterne angeheftet.

Dennoch sieht der IKG-Generalsekretär die Situation in Österreich „zum Glück um einiges stabiler“ als in Deutschland – wobei er überzeugt ist, „dass wir hier noch am Anfang stehen“ und sich die Situation etwa durch die sich anbahnende Finanzkrise zuspitzen könnte. Hilfreich sei jedenfalls die laut Nägele gute Kooperation mit der Regierung und dem Verfassungsschutz. Dialog finde statt, hilfreich sei etwa die Antisemitismusstrategie des Bundes.

Trotz der Sorge um die Mitte der Gesellschaft waren im Jahr 2019 aber immer noch etliche Übergriffe rechtsextrem motiviert, wie der Antisemitismusbericht zeigt. Ein fast genauso großer Teil war wiederum keiner klassischen Kategorie zuordenbar. So könne man etwa bei Hakenkreuz-Schmierereien oft nicht wissen, ob tatsächlich Neonazis am Werk waren oder sich etwa Islamisten dieses Symbols bedienen, gab Nägele zu bedenken.

Politik zeigt sich betroffen

Die Veröffentlichung des Berichts löste eine Reihe von Reaktionen seitens der Poltik aus. „Diese Entwicklung muss für uns alle eine Warnung sein. Es gilt jetzt als Gesellschaft geschlossen und noch entschiedener gegen jede Form von antisemitischen Tendenzen anzukämpfen“, so Europaministerin Karoline Edtstadler (ÖVP) in einer Aussendung. Innenminister Karl Nehammer (ÖVP) zeigte sich ebenfalls alarmiert. Er stellte die weitere Sensibilisierung für das Thema in der Ausbildung der Polizistinnen und Polizisten in Aussicht. „Hier arbeitet das Innenministerium künftig mit dem Lehrer und Bildungsnetzwerker Daniel Landau zusammen“, so Nehammer.

Auch die SPÖ-Bundesparteivorsitzende Pamela Rendi-Wagner zeigte sich besorgt. „Eine umfassende Erinnerungskultur sowie Aufklärungs- und Sensibilisierungsarbeit in Schulen sind dringend notwendig. Dazu zählt auch, dass alle SchülerInnen eine KZ-Gedenkstätte besuchen sollten“, forderte Rendi-Wagner. Auch für Wiens Bürgermeister Michael Ludwig (SPÖ) gibt der Antisemitismusbericht „Anlass zur Sorge“. Auf Twitter schrieb er: „Wien ist eine weltoffene Stadt, in der Toleranz und Meinungsfreiheit großgeschrieben und auch gelebt wird. Antisemitismus und Rassismus haben in unserer Stadt keinen Platz!“

Die Grünen orten angesichts der steigenden Zahl an antisemitischen Vorfällen Bedarf für eine eigene Forschungs- und Dokumentationsstelle im Dokumentationsarchiv des österreichischen Widerstands (DÖW). „Wir haben zahlreiche Vorschläge, wie dem Antisemitismus zu begegnen ist, und wir werden beginnen, diese umzusetzen“, sagte deren Kultursprecherin Eva Blimlinger.

Der Wiener FPÖ-Chef und Vizebürgermeister Dominik Nepp bezeichnete die Zahlen als „erschreckend“. In einer Aussendung machte er „muslimische Massenzuwanderung“ und die „Migrationswelle 2015“ für den Anstieg verantwortlich. Doch das belegen die Zahlen in keiner Weise. Denn nur 31 der 550 Meldungen betrafen im Vorjahr Vorfälle mit islamischem Hintergrund.