Kenan Güngör
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Chronik

Demo-Unruhen: „Mehr Demokratieerziehung“

Nach den Ausschreitungen rund um Kurden-Demos in Wien-Favoriten fordert der Soziologe Kenan Güngör mehr Demokratieerziehung in den Schulen. Zudem sei es wichtig, dass die Polizei die Rädelsführer ausforsche.

Güngör sieht als einen Grund für die Eskalation die Zuspitzung der Lage und den Krieg mit den Kurden in der Türkei. „Man kann sagen: Je stärker die Konflikte in den Ursprungsländern sind, desto stärker die Resolidarisierung und Reidentifikation in der Aufnahmegesellschaft.“ Die türkischstämmigen Jugendlichen seien dabei von den Propagandakanälen der türkischen Regierung beeindruckt.

Daneben gebe es in dem Konflikt auch eine weltanschauliche Dimension, so der Soziologe gegenüber „Wien heute“: Auf der einen Seite liberale, linke und prokurdische Gruppen – auf der anderen Seite autoritäre, islamistische und faschistoide.

Soziologe Kenan Güngör zu den Unruhen in Favoriten

Soziologe Kenan Güngör spricht unter anderem über den Hintergrund der Ausschreitungen in Favoriten.

Konsequenzen für Rädelsführer wichtig

Die außenpolitischen Faktoren könne man kaum beeinflussen, meinte Güngör, aber: „Wir brauchen unbedingt so etwas wie eine Demokratieerziehung, eine Demokratiekultur hier.“ Die randalierenden Jugendlichen seien hier alle mindestens neun Jahre zur Schule gegangen. „Die Schule wäre ein guter Ort, wo die Demokratieerziehung, die Demokratiebildung deutlich weiter ausgebaut werden muss.“

Kundgebung der Antifa beim Ernst-Kirchweger-Haus (EKH) in Wien-Favoriten am Freitag, 26. Juni 2020.
APA/Georg Hochmuth
Rund um kurdische Demos kam es zu Ausschreitungen

Der Staat müsse das Demonstrationsrecht für alle Menschen sicherstellen, betonte Güngör. „Wichtig ist, dass die Polizei genau recherchiert, wer die Rädelsführer sind, wer welche Rolle hatte“, so der Soziologe und Integrationsexperte. Bildmaterial gebe es dafür genug. Laut Güngör waren die Ausschreitungen zum Teil organisiert. Konsequenzen für die Rädelsführer wären aus seiner Sicht gut.

„Reviermarkierung“ in Favoriten

Entstanden seien die Spannungen rund um die Kurden-Demos auch, weil diese in Favoriten stattgefunden hätten, erklärt Güngör im Interview mit „Wien heute“. „Wir haben seit Jahren Demonstrationen in den Inneren Bezirken, das ist vergleichsweise problemlos abgelaufen.“ In Favoriten sei der Anteil der türkischstämmigen Menschen jedoch groß: „Da gibt es diese Reviermarkierung – wem gehört Favoriten?“

Favoriten: Reaktionen zu Regierungsmaßnahmen

Nach den Demo-Ausschreitungen in Favoriten sollen die Gewalttäter mittels Videobeweisen ausgeforscht werden. Zudem soll es einen runden Tisch mit dem Verfassungsschutz und dem Integrationsfonds geben. In Favoriten ist es seit gestern weitgehend ruhig.

„Leben seit Jahren gemeinsam“

Einzelne Aufwiegler auf beiden Seiten – so erklärt der Sprecher eines türkischen Integrationsvereins in Favoriten die Eskalation. „Von beiden Seiten gab es solche Leute, die das verursacht haben, haben wir als Info bekommen“, sagt Ibrahim Ulay vom Verein Sam-Der gegenüber „Wien heute“. Die Geschehnisse bezeichnete er als „traurig“. „Wir leben seit Jahren gemeinsam, wir besuchen auch die türkischen und kurdischen Restaurants und Geschäfte – und bis jetzt gab es eigentlich keinen Vorfall“, meinte Ulay.

Ankara soll „nicht Öl ins Feuer gießen“

Seit Mitte vergangener Woche sind in Wien-Favoriten mehrere kurdische bzw. linke Kundgebungen abgehalten worden. Dabei kam es zu Ausschreitungen – Grund dafür waren Angriffe von türkischen Nationalisten und Rechtsextremen. Die Bundesregierung kündigte Maßnahmen an – so soll im Sommer eine Dokumentationsstelle für den politischen Islam die Arbeit aufnehmen. Damit sollen Netzwerke und Vereine durchleuchtet werden – mehr dazu in news.ORF.at.

Die Unruhen in Favoriten haben auch ein diplomatisches Nachspiel. Österreich und die Türkei baten den Botschafter des jeweils anderen Landes am Montag zu Gesprächen in die Außenministerien. Beim Termin des türkischen Botschafters Ozan Ceyhun in Wien wurde diesem kommuniziert, dass Ankara „nicht Öl ins Feuer gießen“ solle – mehr dazu in news.ORF.at.