Koprolalie heißt die Störung beim Tourette-Syndrom, wenn die Betroffenen zu unkontrollierten Schimpftiraden ansetzen. Etwa 30 Prozent der Tourette-Erkrankten leiden daran. Das Schimpfen kennt der 44-jährige Reinhard Schober nur zu gut. Er hat es mittlerweile zwar im Griff. Negativ in Erinnerung geblieben ist dem krankheitsbedingten Pensionisten aber ein Vorstellungsgespräch vor ein paar Jahren: „Dann ist der Personalchef hereingekommen und da habe ich mir gedacht, jetzt kommt gleich was. Und dann habe ich zwei Sekunden später den Personalchef beschimpft.“
Zu wenige spezialisierte Ärzte
Motorische Ticks, wie zucken oder auch unwillkürliche Laute kommen häufiger vor, auch Schober zeigt die Symptome beim Interview. Eine Anlaufstelle für die Betroffenen ist seit 24 Jahren die „Tourette Selbsthilfegruppe Österreich“. 60 Mitglieder hat der Verein. Die Leiterin Birgitt Urbanek und ihr Mann, der selbst das Tourette-Syndrom hat, haben den Verein gegründet, um Hilfe anzubieten. Denn medizinische Therapiemöglichkeiten waren rar.
Und Probleme gibt es heute noch, sagt Urbanek. „Ich bin schon zufrieden, wenn wir genügend Ärzte hätten, die Tourette überhaupt richtig diagnostizieren könnten.“ Ihre Hoffnung: „Vielleicht könnte man eine Ambulanz gründen in Wien.“ Für Marius Hienert, Psychotherapeut in der Klinik Penzing, liegt das Problem woanders: „Derzeit ist leider das Problem, dass sehr wenige Ärzte, aber auch sehr wenige aus dem psychotherapeutischen Bereich auf diese Erkrankung spezialisiert sind.“
Raufereien wegen Ticks
Eine eigene Ambulanz für Tourette-betroffene Personen müsse her, fordert die Vereinsleiterin. Für den 29-jährige Manuel Lugmeyer kam nur noch München infrage, in Wien konnte man ihm nicht mehr weiterhelfen: In Deutschland hat die Therapie Habit Reversal, also Gewohnheiten umkehren, angesprochen: Der leidenschaftliche Schauspieler hat mittlerweile keine sichtbaren Ticks mehr.
Der Blick in die Vergangenheit schmerzt aber noch immer, sagt Lugmeyer. „Wenn man Monate lang nur auf Medikamenten ist und abhängig gemacht wird und nicht mehr gehen kann und gerade nur noch atmen kann, dann wäre ich fast der erste Tourette-Tote gewesen.“ Auch die Reaktionen der Gesellschaft haben ihm das Leben zur Hölle gemacht. Ticks, wie beispielsweise Mittelfinger zeigen, haben ihn in etliche Raufereien verwickelt.
Hilfe für Menschen mit Tourette-Syndrom
In Österreich gibt es etwa 3.500 Menschen mit Tourett-Syndrom, 200 davon in Wien. Betroffene können sich an Selbsthilfegruppen wenden.
Dabei wäre es auch anders gegangen, meint Lugmeyer. „Mir ist es lieber, mich sprechen die Menschen an in der U-Bahn und sagen: ‚Hey, hast du das Tourette-Syndrom? Mich interessiert das voll. Kann ich dich was fragen?‘ Klar, geh ma auf a Bier.“ Zu den Treffen in der Selbsthilfegruppe gehen Manuel und Reinhard nach wie vor. Sie wollen helfen, denn mit der Krankheit sind sie nicht allein.