Polizisten mit Waffen
APA/Roland Schlager
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Chronik

Deradikalisierungsprogramm im Fokus

Das Deradikalisierungsprogramm der Justiz rückt zunehmend in den Fokus. Denn der Attentäter war einschlägig vorbestraft und gegen Auflagen im vergangenen Dezember vorzeitig entlassen worden. Betroffen reagierte der Verein Derad, der den Attentäter betreute.

Deradikalisierung und Prävention – dafür steht der Name Derad. Ein Verein, der unter anderem, im Auftrag des Justizministeriums radikal-islamistische Straftäter in Justizansalten betreut. Außerdem ist die NGO für die Nachbetreuung von einschlägig verurteilten Personen zuständig und für Bildungsmaßnahmen für Justizwachebeamte und Beamtinnen im Bereich der Extremismusprävention.

Letzter Termin Ende Oktober

Dem Attentäter scheint es aber offenbar gelungen zu sein, die Deradikalisierungsexperten zu täuschen. Bei seinem letzten Termin im Verein Derad Ende Oktober soll der 20-Jährige ausdrücklich die jüngsten Terroranschläge in Frankreich verurteilt haben, so der Generaldirektor für die Öffentliche Sicherheit Franz Ruf. Das Justizministerium kooperiert seit rund fünf Jahren mit dem Verein.

Bei Derad herrscht Betroffenheit. „Wir haben ganz allgemein immer gewarnt, dass extremistisches Potenzial immer da ist. Es stimmt nicht, dass mit dem Ende des IS auch das Interesse daran verflogen wäre“, sagte Moussa Al-Hassan Diaw von Derad am Dienstag. Es gebe auch in Österreich das „Potenzial, einem politischen Extremismus zu folgen und daraus gewalttätige Handlungen abzuleiten. Das gilt für alle ideologischen Richtungen“. Dass es nun in Österreich dazu gekommen ist, sei ein tragisches Beispiel, sagte Diaw von Derad.

Frankreich-Taten als weltweites Vorbild

Zum konkreten Fall dürfe man sich nicht äußern, hieß es weiter, aber Diaw hielt fest, dass es „nie 100 prozentige Sicherheit“ geben kann, ob jemand aus seiner Ideologie heraus auch Taten setzt. Es gebe auch Beispiele von Anschlägen, bei denen die Täter von ihrem Umfeld nie so eingeschätzt worden wären. Etwa bei jenem Mann, der 2011 im Frankfurter Flughafen zwei US-Soldaten erschossen hat. „Niemand hat ihm vorher etwas angemerkt, weil er das mit sich selbst ausgemacht hat.“

Dass Taten wie jüngst jene in Frankreich rund um die Mohammed-Karikaturen zur Nachahmung anregen könnten, hält Diaw für wahrscheinlich. „Diese Taten können ein Vorbild sein für Attentäter auf der ganzen Welt.“

Derad weist „unrichtige Aussagen“ Nehammers zurück

Innenminister Karl Nehammer (ÖVP) sagte am Dienstag, es bräuchte eine Evaluierung und Optimierung des Systems. Derad wies am Mittwoch die Kritik von Nehammer als „unrichtig“ zurückgewiesen. Es sei unrichtig, dass der Täter vorzeitig entlassen worden sei, weil Justiz und Prävention versagt hätten. Er sei nie als „deradikalisiert“ dargestellt worden.

Der Verein plädierte für bessere Zusammenarbeit statt Schuldzuweisungen. Denn Gerichte und Derad hätten nicht die Möglichkeiten, die der Verfassungsschutz hat. Weder Bewährungshilfe noch Derad noch ein Gericht könnten Personen überwachen oder Telefone abhören – wie es der Bundesverfassungsschutz könnte. Das BVT stehe mit der Justiz über Kontaktbeamte in Verbindung.

Bis 2018 mehr Austausch mit BVT

Früher – bis 2018 – habe es einen Austausch zwischen Derad und der BVT-Präventionsabteilung gegeben. Bei Gefahr in Verzug habe man LVT und BVT stets kontaktiert und somit Straftaten in der Vergangenheit verhindern können, merkt der Verein an. Und stellt zu dem Täter fest: Er wäre auch bei voller Haft seit Juli in Freiheit, und damit wäre auch so die „schreckliche Bluttat“ jetzt möglich gewesen.

Er sei nicht vorzeitig entlassen worden, weil er als deradikalisiert galt – sondern: „Im Gegenteil wurde die mögliche Halbstrafe (also Entlassung nach halber Haftdauer, Anm.) des Ersttäters von dem Gericht aus generalpräventiven Maßnahmen abgelehnt“, hält Derad der von Nehammer geäußerten Kritik an der vorzeitigen Entlassung auf Bewährung entgegen.

„Nie als deradikalisiert dargestellt“

Bei Verbüßung der vollen Haft hätte er ohne Bewährungsauflagen entlassen werden müssen. Das Gericht habe in seinem Entlassungsbeschluss aber die Notwendigkeit für dreijährige Bewährungsauflagen – Bewährungshilfe und Deradikalisierungsprogramm – attestiert. Und sein Derad-Betreuer habe ihn nie als deradikalisiert dargestellt.

Auch Kanzler Sebastian Kurz (ÖVP) hatte zuvor am Dienstag ebenfalls scharfe Kritik an der vorzeitigen Entlassung des Attentäters geübt. Diese Entscheidung sei mit dem heutigen Wissensstand „definitiv falsch“ gewesen, sagte er in der Sonder-ZiB.

Experte warnt vor Haftentlassenen

Der Wiener Attentäter sei ein Beispiel für eine Gruppe von Dschihadisten, auf sich die europäischen Länder besser vorbereiten sollten – nämlich in den 2010er-Jahren zu Strafen Verurteilte, die jetzt wieder freigelassen werden, sagte der Extremismusforscher Peter Neumann. Um zu verhindern, dass sie Terroranschläge begehen, wären umfassende Präventionsprogramme vom ersten Tag der Haft an nötig gewesen – und bei akuter Gewaltgefahr auch die Möglichkeit der Sicherheitsverwahrung.

Mittlerweile seien schon drei recht kurz zuvor aus der Haft entlassene Dschihadisten zum Terroristen geworden – der in Wien Erschossene sowie zuvor Attentäter in Dresden und in London, berichtete Neumann Dienstag in der „ZiB2“. Aber in den Gefängnissen säßen noch Hunderte von ihnen, in Frankreich, Deutschland, Österreich etc. Bei ihrer Verurteilung sei man froh gewesen, sie weggesperrt zu haben – aber auf die Entlassung hätten sich kaum ein Staat vorbereitet. Nur die Niederlande, die mit Prävention, Überwachung und im Notfall bei akuter Gewaltgefahr auch Sicherheitsverwahrung die Sache „ganz gut im Griff“ habe. Diese Gruppe ist für den Extremismusforscher auch die viel größere Gefahr als die Dschihad-Rückkehrer.

Derad: Längere Begleitung wünschenswert

Grundsätzlich kann der Verein Derad nur jene Straftäter betreuen, die vorzeitig aus der Haft entlassen werden und für die im Zuge der Bewährungshilfe eine zusätzliche Betreuung durch den Verein verordnet wird. Nach Ende der Bewährungszeit erlischt der Auftrag. Zwar würden manche Klienten weiterhin freiwillig kommen, eine Handhabe gebe es jedoch nicht. Man könne lediglich einen Abschlussbericht ans Gericht verfassen.

Diaw würde sich sehr wünschen, dass es künftig auch über das Ende der Bewährungsfrist die Möglichkeit gäbe, Klienten weiterhin verpflichtend begleiten zu können. Für Täter, die regulär aus der Haft entlassen werden – also nach vollständiger Abbüßung des Strafrahmens – gebe es überhaupt keine weitere Begleitung. „Wir sind der Meinung, dass weitere Betreuung im Bereich der Ideologie oft dringend notwendig ist“, unterstrich Diaw.