Hastig zurückgelassene Tische in einem Lokal am Tatort des Attentates in der Wiener Innenstadt am Dienstag, 3. November 2020.
APA/HELMUT FOHRINGER
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Chronik

Der Terror und die Wiener Seele

Hilfsbereitschaft, Zivilcourage, Solidarität: Der Terroranschlag am Montag in Wien hat gezeigt, wie wildfremde Menschen einander beistehen können. Er hat aber auch die dunkle Seite sichtbar gemacht, in Form von Anfeindungen und Schuldzuweisungen.

Schüsse, Schreie, Chaos, Menschen, die verzweifelt Schutz suchten: Es waren unbeschreibliche Momente im Bermudadreieck, von denen niemand glaubte, sie jemals in Wien erleben zu müssen. Andere saßen stundenlang in Theatern, Konzertsälen und Veranstaltungsräumen fest, konnten nicht nach Hause, waren in dem Chaos gestrandet.

Und dann waren da plötzlich Menschen wie Julya Rabinowich. Sie bot wie viele andere unter dem hashtag „Opendoors-Vienna“ Menschen, die nicht nach Hause konnten, Unterschlupf an. Die Autorin wohnt in der Nähe der Wiener Innenstadt und nahm zwei junge Frauen auf: „Ich hab’ ihnen Tee gemacht, ich hab ihnen Pyjamas hergerichtet und sie ins Gästezimmer gegeben, das früher das Kinderzimmer war, hab’ sie im Gästebett untergebracht.“

Viele bewiesen Mut und Zivilcourage

Polizistinnen und Polizisten, die nicht wussten, wie vielen Attentätern sie gegenüberstehen, Sanitäter, die nicht wussten, ob sie beschossen werden, Lokalbesitzer, Kellner, Portiere, die Menschen in ihren Lokalen in Sicherheit brachten, Hoteliers, die Menschen Zuflucht gewährten und Gäste aus dem Restaurant kostenlos übernachten ließen: Viele haben einfach geholfen.

Frau zündet Kerze an
APA/Georg Hochmuth
Viele Kerzen zum Gedenken an die Opfer des Terroranschlags

Der Betreiber eines koreanischen Restaurants im Bermudadreieck sah nicht nur den Attentäter wahllos um sich schießen und brachte seine 30 verängstigten Gäste in der Küche in Sicherheit. Er verlor Montagnacht einen guten Freund, einen 39-jährigen Österreicher mit chinesischen Wurzeln, auch er ein Restaurantbesitzer. Auch er wollte Gäste und Personal in Sicherheit bringen, wurde aber von mehreren Kugeln getroffen und starb vor seinem Lokal.

Auch ein Polizist brach von Schüssen getroffen zusammen. Drei junge Männer brachten ihn in Sicherheit. Osama Abu El Hosna war auf dem Weg zur Arbeit, als er vom Attentäter aus wenigen Metern Entfernung unter Beschuss genommen wurde und sah, wie der Polizist zusammenbrach: „Ich habe nicht überlegt. Mein Ziel war es, den Polizisten in eine sichere Ecke zu ziehen. Denn der Täter wollte weiter auf ihn schießen.“ Mikail Özen und sein Freund Recep Tayip Gültekin, der bereits eine Schusswunde am Bein erlitten hatte, eilten zu Hilfe. Gemeinsam trugen sie den Polizisten zu einem Rettungswagen.

Zivilcourage in der Anschlagsnacht

In der Nacht des Terroranschlags zeigten in Wien viele Menschen Zivilcourage. Hoteliers, aber auch Anrainerinnen und Anrainer boten Unterschlupf für Menschen, die aus dem Fortgehviertel Bermudadreieck flüchteten.

Die andere Seite

Doch als mehr und mehr über den Attentäter und seine Motive bekannt wurde, zeigte sich auch ein anderes, hässliches Gesicht der Stadt: Die Organisation ZARA, die sich für mehr Zivilcourage und gegen Rassismus einsetzt, registrierte in den vergangenen Tagen in ihren Beratungsstellen verstärkt Beschwerden. Musliminnen und Muslime würden noch stärker als sonst angefeindet, im Internet und sogar auf offener Straße.

„Es gibt Meldungen beispielsweise, dass Menschen als Terroristin oder Terrorist beschimpft werden, dass obszöne Bemerkungen gemacht werden gegenüber Musliminnen“, berichtete Bianca Schönberger von ZARA. Muslime seien in direkten Zusammenhang mit der Tat gebracht worden und hätten quasi „als Sündenböcke herhalten müssen für diese schreckliche Tat am Montag.“

„Wie kann sowas passieren?“

Verhältnismäßig ruhig geworden ist es nach dem Anschlag dort, wo auf Social Media im Normalfall gewollt Platz für den grantigen Wiener Schmäh ist: Der „Wiener Alltags-Poet“ Andreas Rainer sammelt seit drei Jahren auf Instagram Zitate von Wienerinnen und Wienern: „Ich hab jetzt am Tag nach dem Anschlag das erste Posting: Das war eine Mutter, die mit ihrem Kind am Schwedenplatz war, und das Kind hat gefragt: ‚Mama, wie kann sowas passieren?‘ und sie sagt: ’Ich weiß es nicht, mein Kind, ich weiß es einfach nicht. – Und das, finde ich, hat die Situation ganz gut zusammengefasst.“