Friedericke Mayröcker
APA/HERBERT NEUBAUER
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Chronik

Friederike Mayröcker ist tot

Die vielfach ausgezeichnete Autorin Friederike Mayröcker ist im Alter von 96 Jahren gestorben. Sie schrieb sieben Jahrzehnte lang Prosa- und Lyrikbände. Ganz Wien trauere, so Bürgermeister Michael Ludwig, der die Beisetzung in einem Ehrengrab der Stadt Wien ankündigte.

Als „bekannt, aber nicht gekannt“ bezeichnete ein Literaturwissenschafter einmal die mit ihrer schwarz verhüllten Gestalt und ihrer zettelübersäten Wohnung zur Legende gewordene Schriftstellerin. „Ich lebe nur in Sprache“, bekannte Mayröcker, der Leben und Literatur eins sind, immer wieder: „Ich kann alles durch meine Augen in mich aufnehmen und aus mir herausschreiben.“ Sieben Jahrzehnte lang entstanden so in dichter Folge Prosa- und Lyrikbände. „Das Gedichteschreiben ist so eine Art Aquarellieren, das Prosaschreiben ist eine harte Kunst wie eine Skulptur anfertigen“, schilderte Mayröcker einmal in einem APA-Interview.

Der letzte als Lyrik ausgewiesene Band erschien 2012 mit „Von den Umarmungen“, die zuletzt erschienenen Werke betitelte der Suhrkamp-Verlag, bei dem Mayröckers Werk seit 1979 erschien, selbst als „prosaische Gedichte und lyrische Prosastücke“. So erschien in den vergangenen Jahren die Trilogie „etudes“ (2013), „Cahier“ (2014) und „fleurs“ (2016). Im Prosaband „Pathos und Schwalbe“ (2018) spielte die damals 93-jährige Dichterin sehnsüchtig, selbstironisch und beziehungsreich mit Form und Chronologie, mit Innen- und Außenbeobachtung.

Friederike Mayröcker
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1924 geboren, 1939 erste Prosatexte

Am 20. Dezember 1924 in Wien als Tochter eines Lehrers und einer Modistin geboren, wurde Mayröcker als Kind wegen ihrer zarten Gesundheit stark von der Außenwelt abgeschirmt. Bereits als 15-Jährige begann sie, kurze emotionale Prosatexte zu schreiben. In der Literaturzeitschrift „Plan“ veröffentlichte sie 1946 erste Gedichte. Im selben Jahr begann sie als Englischlehrerin an Wiener Hauptschulen zu unterrichten. „Ich war eine schlechte Pädagogin. Ich wollte nie diesen Lehrberuf ausüben, aber meine Eltern haben gemeint, dass das ein für mich geeigneter Brotberuf wäre“, erinnerte sich Mayröcker einmal.

Programmhinweis

Der ORF widmet Mayröcker im kommenden „kulturMontag“ (7. Juni 2021, 22.30 Uhr, ORF 2) einen Nachruf und zeigt danach die Dokumentation „Wilder, nicht milder – Friederike Mayröcker im Portrait“ (23.15 Uhr).

Ö1 wiederholt am Samstag um 14.00 Uhr das Hörspiel „oder 1 Schumannwahnsinn“. In „Nachtbilder – Poesie und Musik“ (22.05 Uhr) liest Mayröcker aus ihrem Werk „fleurs“. Am Sonntag ist in den „Tonspuren“ (20.15 Uhr) „Fritzi und ihre Fans“, eine Hommage an die Autorin zu hören. Weitere Programmänderungen in ORF III sind geplant.

Ein 1950 begonnenes Germanistikstudium musste sie abbrechen, weil ihre Lehrerinnentätigkeit die wirtschaftliche Basis der Familie sicherte. Nach einigen vorübergehenden Beurlaubungen konnte sie erst 1969 aus dem Schuldienst ausscheiden und sich ganz dem Schreiben widmen. 1951 stieß Mayröcker zu einem Kreis junger Autoren um Hans Weigel, dem u.a. Ingeborg Bachmann und Hertha Kräftner angehörten. Sie lernte Andreas Okopenko kennen und 1954 Ernst Jandl, der die nächsten Jahrzehnte ihr „Hand- und Herzgefährte“ war. Sein Tod im Jahr 2000 erschütterte die Dichterin tief, ihre Trauerarbeit schlug sich in zahlreichen Büchern nieder.

Einfluss auf den gesamten deutschen Sprachraum

Ehe Mayröcker sich experimentelle Techniken der Collage, Montage, Assoziations- und Traumarbeit aneignete, erschien 1956 „Larifari. Ein konfuses Buch“ mit Prosaskizzen der vorexperimentellen Phase. 1964 erschien ihr Gedichtband „metaphorisch“, 1966 schließlich brachte Rowohlt die Gedichtauswahl „Tod durch Musen“ heraus: „Da habe ich gedacht: Vielleicht ist das wirklich mein Weg“, sagte fdie Dichterin rückblickend. Zwischen 1967 und 1971 verfasste Mayröcker eine Reihe von Hörspielen, vier davon gemeinsam mit Jandl, darunter das 1968 mit dem Hörspielpreis der Kriegsblinden ausgezeichnete „Fünf Mann Menschen“.

Friederike Mayröcker ist tot

Kohlrabenschwarzes Haar und eine zettelübersäte Schreibwohnung: Nicht zuletzt im Bildgedächtnis der Literatur war Friederike Mayröcker eine Legende. Bis ins hohe Alter schrieb die wohl bedeutendste deutschsprachige Dichterin der Gegenwart ihr Lebenswerk fort, das Surrealismus, Sprachexperiment und Alltagsbeobachtung auf kunstvollste Weise verband. Am Freitag verstarb Mayröcker mit 96 Jahren, wie ihr Verlag via Twitter bekanntgab.

Nach den beiden experimentellen Prosabüchern „Minimonsters Traumlexikon“ (1968) und „Fantom Fan“ (1971) wandte Mayröcker sich vom „experimentellen Purismus“ ab, um wieder mehr Erfahrungswirklichkeit in ihre Arbeit zu integrieren. Diesen Einschnitt markiert die Erzählung „je ein umwölkter gipfel“ (1973). In der Folge versuchte die Dichterin, eine „neue experimentelle Romanform“ zu entwickeln. Mit suggestiver, metaphorisch geprägter Prosa von lyrischem Charakter löste sie herkömmliche Vorstellungen von erzählender Literatur, Geschichte und Identität auf und beeinflusste damit junge Autoren im gesamten deutschen Sprachraum.

Friederike Mayröcker
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„mein Herz mein Zimmer mein Name“

Mayröckers große Prosaarbeiten – etwa „Die Abschiede“ (1980), „Das Herzzerreißende der Dinge“ (1985), „mein Herz mein Zimmer mein Name“ (1988), „brütt oder Die seufzenden Gärten“ (1998), „Und ich schüttelte einen Liebling“ (2005) oder „Ich bin in der Anstalt. Fusznoten zu einem nichtgeschriebenen Werk“ (2010) – sind „keine Autobiografie, dennoch authentisch“, wie die Autorin es einmal charakterisiert hat.

Im Prosaband „Die kommunizierenden Gefäße“ heißt es über ihren literarischen Alltag: „Ich beginne den Tag indem ich versuche, jegliche kleinste Verrichtung, jeden Handgriff, zu verbalisieren, das ist 1 Schreiben hinter dem Schreiben, sage ich, es löst sich alles in Sprache auf (…)“. Begleitet wurde Mayröcker in diesem Alltag in dem 2008 erschienenen Film „Das Schreiben und das Schweigen“ von Carmen Tartarotti.

„Oper“ Hörspiel des Jahres 2017

Für ihr Hörstück „Oper!“, das Otto Brusatti im Sommer 2017 im Kurhaus Semmering zur Uraufführung brachte, wurde Mayröcker für das „Hörspiel des Jahres ausgezeichnet“, im selben Jahr erhielt sie auch den mit 10.000 Euro dotierten Günter-Eich-Preis, nachdem sie im Jahr zuvor mit dem ersten Österreichischen Buchpreis ausgezeichnet worden war.

Mayröckers gesammeltes lyrisches Werk umfasst viele hundert Seiten, 2016 veröffentlichte der Suhrkamp Verlag unter dem Titel „Benachbarte Metalle“ ausgewählte Gedichte aus drei Jahrzehnten. Zuvor kamen unter dem Titel „dieses Jäckchen (nämlich) des Vogels Greif“ die 2004 bis 2009 entstandenen Gedichte auf den Markt. Im letzten dort abgedruckten Text, der aus dem März 2009 stammt, heißt es: „ich / habe ja erst angefangen zu schauen zu sprechen zu schreiben zu weinen“.

Vielfach ausgezeichnet

Mayröcker zählt zu den am höchsten dekorierten heimischen Schriftstellern, ihr umfangreiches wie eigenwilliges Werk wuchs bis kurz vor ihren Tod. Sie wurde unter anderem mit dem Großen Goldenen Ehrenzeichen mit Stern (2014), dem Großen Österreichischen Staatspreis (1982) und dem Georg-Büchner-Preis (2001) ausgezeichnet.

Ehrengrab der Stadt Wien

Dass der Tod auch Schreibverkürzer ist, wollte Friederike Mayröcker ihm nie verzeihen. Jetzt hat der Tod sie ereilt: „Ganz Wien trauert um die Doyenne der österreichischen Literatur und Wiener Ehrenbürgerin Friederike Mayröcker“, sagte Wiens Bürgermeister Michael Ludwig (SPÖ). Beim Wiener Literaturfest „O-Töne“ im MuseumsQuartier gab sie 2020 bekannt, dass das Poem „da ich morgens und moosgrün. Ans Fenster trete“ ihr letztes sei.

„Die Grande Dame der Literaturszene hat viel zum Ruhm der Kulturhauptstadt Wien beigetragen; und die Stadt hat sich dafür mit hohen Auszeichnungen wie dem Ehrenring und der Ehrenbürgerschaft der Stadt Wien revanchiert.“ Wie der Wiener Stadtchef mitteilt, wird Friederike Mayröcker in einem Ehrengrab der Stadt Wien beerdigt werden.

„Eine wirklich unverwechselbare Stimme der Weltliteratur ist verstummt. Mit ungebrochener Schaffenskraft hat uns Friederike Mayröcker bis zuletzt mit ihren Texten von genreüberschreitender Einzigartigkeit gezeigt, dass Dichtung grenzenlos ist. Zeit ihres Lebens hat Mayröcker die Sprache als einen schier unerschöpflichen poetischen Zauberkasten begriffen. Erstaunliche ‚Widersetzlichkeit‘ war ihren Texten stets eigen. Mayröckers Tod ist ein großer Verlust für die Literatur“, reagierte Kulturstadträtin Veronica Kaup-Hasler auf die Nachricht von Mayröckers Tod.