Coronavirus

CoV: 30 Prozent anfällig für Radikalisierung

Die sehr spezielle Situation der Coronavirus-Pandemie kann eine Radikalisierung in Richtung der zahlreich kursierenden Verschwörungsmythen begünstigen. Eine aktuelle Befragung unter Studierenden zeigte, dass rund 30 Prozent dafür anfällig sind.

Das sollte man zwar „nicht überdramatisieren“, aber intensiv über Auswege und Perspektiven für Betroffene nachdenken, so der Leiter des Wiener Forscherteams Jürgen Grimm. Durchgeführt wurde Grimms Studie, an der rund 600 Studenten teilnahmen, „mitten in der Coronavirus-Krise. Wir haben untersucht, welche Faktoren zu Radikalisierungsprozessen beitragen können.“

Radikalisierungstendenzen nicht stärker

Weiß man darüber mehr, könne man sich auch überlegen, wie diese Personen wieder aus dem Sog herausgeholt werden können, gab sich der Wissenschafter überzeugt, der betonte, dass sich die Gesamtwerte für Radikalisierungstendenzen in der CoV-Zeit nicht erhöht haben. Das zeigen Vergleichsdaten aus der Zeit vor der Pandemie.

Speziell im Zusammenhang mit der Krise glaubt Grimm aber, dass auch tief verwurzelte evolutionsbiologische Faktoren eine Rolle spielen. So ist der Mensch im Laufe seiner Entwicklungsgeschichte vermutlich mehrmals nur knapp dem Verschwinden entronnen. In derartigen Zeiten rapider Abkühlung war er zum Überleben auf Höhlen angewiesen, in denen viel Zeit in karger Umgebung verbracht werden musste.

Gerade in der erzwungenen Einschränkung der Perspektive dürfte sich Erstaunliches ereignet haben. Denn laut Paläoanthropologen brachten solche Phasen unsere Vorfahren technisch und kulturell voran, wie sich in eindrucksvollen Höhlenmalereien und Werkzeuginnovationen zeigt. Grimm nennt dieses Phänomen „Höhlenkompetenz“. Genau diese war auch in Zeiten der Lockdowns gefragt, so die Idee. Wer es also schafft, in der Einengung für sich sinnvoll tätig zu sein und kulturell und weltanschaulich offen zu bleiben, übersteht solche Zeiten besser.

Pandemie erzeugt „Offenheit“ für Verschwörungstheorien

„Komme ich in der Pandemiesituation schlecht zurecht und habe eine gewisse Neigung zum Leiden in dieser Zurückgezogenheit, dann fange ich auch an, mir Gedanken darüber zu machen, wer dafür verantwortlich ist.“ Auf der Grundlage entwickelt sich eine Art „Offenheit für Verschwörungsnarrative“, erklärte Grimm. Diese „Höhlenpathologie“ habe sich in den Studiendaten auch tatsächlich als Erklärungsfaktor entpuppt.

Ebenso einen Einfluss hatte es, wenn Menschen die Welt insgesamt als höchst unberechenbar und im Wertezerfall begriffen gesehen haben. Zeigten Teilnehmer die Tendenz, die Umwelt als „hostilisiert“, also mit vermeintlichen Feinden gespickt, zu sehen, erhöhte das ebenso die Wahrscheinlichkeit, sich in Fundamentalopposition zu den Eindämmungsmaßnahmen und deren Verkünder zu begeben.

Einiglung verstärkt Radikalisierung

Ähnlich verhielt es sich in der Analyse mit Menschen, die zu Einiglungstendenzen („Cocooning“) neigten. Ein weiterer Faktor ist „ein generelles Misstrauen gegenüber Institutionen und Eliten“, bei einem gleichzeitig vorhandenen paradoxen Wunsch nach Unterordnung zu einem Guru oder „starken Führer – der ja natürlich auch eine Elite wäre“, so Grimm.

Diesen „Faktoren der Radikalisierung“ stehen die (Höhlen-)Kompetenz – nämlich kreativen Nutzen aus der unangenehmen Situation zu ziehen, nicht in paranoide Tendenzen zu verfallen und seine Fantasie im Sinne einer wie auch immer gearteten kulturellen Betätigung zu kanalisieren. Ebenso geschützter waren Menschen, die Dinge weiter von verschiedenen Standpunkten betrachten konnten und die sich ihr Mitgefühl weitgehend erhielten, ohne davon in Richtung überschießende Empörung geleitet zu werden. Gegenüber Mythen resilienter waren auch Menschen mit Vertrauen in die Wissenschaft und Institutionen.

Kunst und Kultur als Deradikalisierung

„Das sind alles Einhakpunkte für mögliche Deradikalisierungsstrategien“, sagte Grimm. Eine der wichtigsten Rollen komme hier vor allem der Kunst und Kultur zu, die der Entwicklung von bedenklichen psychischen Tendenzen stark entgegenwirke. Dass sie jetzt diese Rolle wieder stärker spielen kann, könne man daher nur begrüßen. Kommt wieder eine derartige Situation auf uns zu, sollte diesem psychischen Stabilisierungsfaktor, der Entspannung und Anregung bringt, auch stärker Rechnung getragen werden, so der Forscher: „Das ist unser wichtigstes Instrument“, um die „Gefahr von kollektiven pathologischen Prozessen“ nicht zu groß werden zu lassen.

Entstanden ist die Untersuchung im Rahmen des Forschungsprojektes „Kommunikationsmuster der Radikalisierung“ (COMRAD), das von Grimm am Institut für Publizistik- und Kommunikationswissenschaft der Universität Wien geleitet wird.