Andreas Bergthaler
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Coronavirus

Virologe: „Müssen jetzt handeln“

Der Virologe Andreas Bergthaler fordert in „Wien heute“ weiterreichende Maßnahmen gegen die Pandemie. „Es gibt keine Zeit für Geplänkel, wir müssen jetzt handeln“, sagte er. Einen totalen Lockdown braucht es indes laut dem Wiener Intensivmediziner Rainer Thell.

Österreich sei mittlerweile eines der drei Länder weltweit mit den höchsten Inzidenzen, so Bergthaler im Interview mit „Wien heute“ am Mittwochabend. Man sei „mittlerweile in einer Situation, wo es Maßnahmen braucht, die Kontakte massiv zu reduzieren“.

Gleichzeitig warnte der Experte, dass die Einführung einer Impfpflicht für den Kampf gegen die aktuelle Welle der Pandemie wenig bringen würde. „Das Dach brennt, wir müssen löschen“, erläuterte der Virologe. Eine Impfpflicht habe hingegen eine relativ lange Vorzeit von zumindest mehreren Wochen bis zu zwei Monaten, bis ein Ergebnis sichtbar wäre. „Eine Impfpflicht wäre in erster Linie ein präventives Mittel für weitere Wellen“, so Bergthaler. Die Auffrischung sollte hingegen unbedingt angenommen werden.

Virologe zur aktuellen CoV-Situation

Virologe Andreas Bergthaler spricht in „Wien heute“ über die aktuelle CoV-Situation.

„Lassen wir eine Durchseuchung zu?“

Der Experte meinte, man stehe derzeit im Kampf gegen das Coronavirus am Scheideweg. „Wir müssen definieren, was ist das Ziel. Wollen wir das Gesundheitssystem schützen oder lassen wir eine Durchseuchung der Bevölkerung zu?“, vermisste Bergthaler seitens der Politik die Festlegung, was ihr Ziel ist. Aus seiner Sicht jedenfalls „spricht sehr viel dafür, das Gesundheitssystem zu schützen und nicht einfach das Virus durch die Bevölkerung durchlaufen zu lassen“.

Klimek: Zahlen steigen in Wien weniger schnell

Ein Lockdown könnte in Wien noch vermieden werden, sagt Komplexitätsforscher Peter Klimek, allerdings nur, wenn rasch andere Maßnahmen getroffen werden, um die Kontakte zu reduzieren. Als mögliche Maßnahmen nennt er im „Wien heute“-Interview eine nächtliche Ausgangssperre, eine vorgezogene Sperrstunde in der Gastronomie, die 2-G-plus-Regel und beispielsweise Einschränkungen bei Großveranstaltungen. Parallel dazu müssten sich wesentlich mehr Leute impfen lassen, so Klimek.

Positiv ist, dass in Wien die Infektionszahlen momentan laut Klimek weniger schnell ansteigen – und auch die Positivitätsrate bei den Tests sei rückläufig. „Wir sehen, dass die Booster-Impfungen sehr gut wirken“, erklärt der Forscher. „Das heißt, in den Altersgruppen, wo die Booster-Impfungen am weitesten fortgeschritten sind, dort flacht auch die Infektionskurve stärker ab.“ Wann der Höhepunkt der vierten Welle erreicht ist, kann laut Klimek aber noch nicht gesagt werden.

Komplexitätsforscher zur CoV-Lage

Wie schaut die Situation in den Wiener Spitälern aus? Und wird es ohne Lockdown für alle gehen? Patrick Budgen (ORF) hat Komplexitätsforscher Peter Klimek dazu befragt.

Intensivmediziner: Patienten aus Salzburg ausfliegen

Mehr und mehr Fachleute sprechen sich aufgrund der steigenden Zahl an Covid-19-Intensivpatienten und -patientinnen unterdessen für einen Lockdown für alle in Österreich aus – wie auch Rainer Thell, leitender Oberarzt der Notfallaufnahme in der Klinik Donaustadt. „Es geht sich sonst nicht mehr aus“, sagte er. „Es kann nicht sein, dass in Salzburg Menschen sterben, keine mutigen Entscheidungen getroffen werden, die auf der Hand liegen“, kritisiert der Intensivmediziner. „Jetzt kann man Salzburg noch entlasten und Patienten nach Wien und Niederösterreich ausfliegen.“ Denn dort gebe es beispielsweise noch Betten für Covid-19-Patienten. Er könne es nicht akzeptieren, dass das Sterben zugelassen wird, sagte Thell.

„Wenn wir jetzt nicht solidarisch sind, wann dann?“

„Wenn wir jetzt nicht solidarisch sind, wann dann?“, fragte der Anästhesist und Intensivmediziner. „Wer jedoch glaubt, dass nur Salzburg und Oberösterreich stark betroffen sind, der irrt“, sagte er. „Die Welle wird sich weiter fortsetzen. Das Weihnachtsgeschäft und die Wintersaison sind in höchster Gefahr, wenn wir jetzt nicht auf die Vollbremse steigen“, sagte Thell.

Denn „sämtliche regionale, partielle oder Pseudo-Lockdowns werden das Problem nur in die Länge ziehen, aber nicht nach unten drücken. Es zieht sich für uns alle in den Köpfen wie ein Germteig“, sagte der Oberarzt. „Uns läuft schlicht und ergreifend die Zeit davon. Wir können auch nicht mehr bis Ende November warten. Mit einem befristeten Lockdown vermasseln wir es nicht, sondern investieren in eine ganz wichtige Sache: in den Advent und in Weihnachten“, sagte der Mediziner.

„Wir alle leben in Wahrheit niemals in totaler Freiheit, sondern nur in Freiheitsgraden. Und jetzt müssen wir uns ganz einfach im Sinne derer, die in den Spitälern behandelt werden müssen, zurücknehmen, das ist alles.“ Auch in Wien würden laufend weitere Covid-19-Stationen aufgemacht und andere Stationen geschlossen werden. Ständig müssten auch weitere Intensivbetten für Patienten zur Verfügung gestellt werden. Planbare Operationen werden verschoben oder sind gar eingestellt, damit die Covid-19-Patienten versorgt werden können.

Mikrobiologe erwartet „harten Lockdown“

Dass sich die aktuell sehr hohen Infektionszahlen mit den nunmehrigen Maßnahmen inklusive Ungeimpften-Lockdowns tatsächlich einbremsen lassen, ist auch für den Mikrobiologen Michael Wagner von der Uni Wien „schwer vorstellbar“. Ohne „kurzen, harten Lockdown, um die Zahlen massiv nach unten zu bringen“, werde es vermutlich nicht gehen, sagte er zur APA. Die Schulen könnte man nur mit einem „wirklich stringenten Schutzkonzept offen halten“.

Ein solches „haben wir momentan nicht, müssten es aber nun in wenigen Tagen aufbauen“, so der Initiator des SARS-CoV-2-Schulmonitorings. Mit den jetzt ergriffenen Maßnahmen könne es zwar zu einer Stabilisierung des Infektionsgeschehens auf hohem Niveau kommen, viel mehr Effekt traut Wagner der aktuellen Reaktion auf die hohe vierte Welle nicht zu. Sättigungseffekte durch viele bereits Infizierte könnten dazu beitragen, die Welle zu brechen, aber niemand könne präzise genug vorhersagen, wann das der Fall sein wird.

Auch laut dem Virologen Norbert Nowotny werden die verschärften CoV-Maßnahmen nicht ausreichen, um die Zahl der Neuinfektionen entscheidend zu senken. Der Experte fordert weitere Maßnahmen als „Wellenbrecher, damit dieser Tsunami nicht zu zerstörerisch wirkt“.