Alt- und Neubauwohnungen in Wien Mariahilf
ORF.at/Zita Klimek
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Chronik

Gentrifizierung in Wien überschätzt

Die Gentrifizierung, also die Verdrängung sozial benachteiligter Gruppen durch wohlhabende Haushalte, hält sich in Wien in Grenzen. Es gebe nur einige stark betroffene Grätzel, geht aus einer Studie der Akademie der Wissenschaften (ÖAW) hervor.

Die Zahl der vor 1919 errichteten, nicht parifizierten Gebäude mit mehr als zwei Mietwohnungen ist seit 2007 um zwölf Prozent zurückgegangen. Gründe dafür waren Umwandlungen in Eigentumswohnungen (Parifizierung) oder der Abriss. Der Yppenplatz in Ottakring ist so ein Beispiel. In den letzten Jahren wurde das Viertel aufgewertet. Die Nachfrage steigt, es wird verstärkt investiert, Zinshäuser mit Mietwohnungen verschwinden, und teure Eigentumswohnungen entstehen. Entsprechend schicke Lokale siedeln sich an. Die Gegend wird insgesamt teurer, einkommensschwache Schichten werden verdrängt.

Dennoch gehen Wiener Stadtforscher in einer neuen Studie davon aus, dass das Ausmaß an Gentrifizierung überschätzt wird. Sie schätzen das „Gentrifizierunspotenzial“ für Wien auf rund 30.300 Wohnungen, die zwischen 2007 und 2019 entweder in Eigentumswohnungen umgewandelt wurden oder durch Abriss eines Zinshauses verloren gingen. „Wenn man das auf den gesamten Wohnungsbestand herunterbricht, sind das 0,22 Prozent pro Jahr“, rechnete Robert Musil vom Institut für Stadt- und Regionalforschung (ISR) der ÖAW vor.

Altbauten in Ottakring
ORF.at/Roland Winkler
Altbauten in Ottakring

Zwölf Prozent weniger in zwölf Jahren

Rund 912.000 Hauptwohnsitzwohnungen gab es 2019 in Wien. Vor allem aufgrund des Neubaubooms in den Stadterweiterungsgebieten sank daran der Anteil der gründerzeitlichen Wohnungen zwischen 2000 und 2019 von 33,1 auf 24,1 Prozent. Das spiegelt sich auch in der Abnahme des klassischen Wiener Zinshauses wider: Gab es 2007 noch 17.829 solcher Gebäude, waren es 2019 nur noch 15.712 – ein Rückgang von knapp zwölf Prozent. Sollte sich dieses Minus linear weiterentwickeln, gibt es 2050 voraussichtlich nur noch rund 11.300 Zinshäuser in Wien.

Bis ins Jahr 2017 sieht man einen deutlichen Anstieg bei den Abrissen und Parfiizierungen, anschließend geht die Zahl deutlich zurück. Musil und sein Team versuchten in Gesprächen mit Investoren und Eigentümer die Gründe dafür herauszufinden. Ein möglicher Grund ist die Wiener Baurechtsnovelle von 2018, die den Abriss von Gründerzeithäusern erschwert, die hier schon ihren Schatten voraus warf.

„Bisher hat man sich die Transformation des gründerzeitlichen Wohnungsbestands vor allem für einzelne Grätzel angeschaut. Wir haben dagegen erstmals über den gesamten Stadtraum einen Verdrängungs- oder Gentrifizierungsindikator als Kriterium herangezogen, konkret den Abriss eines Zinshauses oder dessen Parifizierung, die ja im Großteil der Fälle bedeutet, dass die alten Mieter rausmüssen“, sagte Musil. Über den Untersuchungszeitraum nahm der Anteil der Umwandlungen in Eigentumswohnungen leicht ab, während Abrisse 2019 bereits knapp ein Drittel der Veränderung ausmachten.

Brunnenmarkt und Kutschkermarkt als Hotspots

Und diese Veränderungen verlagerten sich im Untersuchungszeitraum auch deutlich. Nach ursprünglichen Hotspots in innerstädtischen Lagen würden neue Zentren der Dynamik außerhalb des Gürtels liegen. Dort gibt es wohlbekannte Gentrifizierungs-Hotspots wie den Brunnenmarkt und Yppenplatz in Ottakring und den Kutschkermarkt in Währing, aber auch neue Cluster etwa an der Meidlinger Hauptstraße in Meidling und der Laxenburger Straße in Favoriten.

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Hotspots der Transformation der Gründerzeitstadt
ÖAW/ISR
Zwischen 2007 und 2011 lagen die Hotspots der Transformationen (Parifizierung und Abriss) in den Bezirken Mariahilf und Neubau
Hotspots der Transformation der Gründerzeitstadt
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Zwischen 2012 und 2014 verlagerte sich die Entwicklung auch in Bereiche außerhalb des Gürtels
Hotspots der Transformation der Gründerzeitstadt
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Von 2015 bis 2019 fanden Transformationen gehäuft in den gürtelnahen Gebieten im 16., 17. und 18. Bezirk statt

Überraschende soziale Auswirkungen

Überraschend waren die Auswirkungen der Veränderung auf die sozioökonomische Struktur: Der Studie zufolge kam es in den entsprechenden Grätzeln zu einem Anstieg der Akademikerquote, während der Anteil von nur Pflichtschulabsolventen abnahm. Kein Effekt zeigte sich allerdings auf das Haushaltseinkommen. „Offensichtlich handelt es sich um einen anderen Prozess, als uns die Gentrifizierungstheorie sagen möchte, wonach sozial wohlhabende, kaufkräftige Haushalte die armen Haushalte verdrängen“, so Musil.

Die sozialen Auswirkungen der Veränderungen ließen sich eher als „soziale Sukzession“ beschreiben denn als Gentrifizierung, meinen die Stadtforscher. So könne etwa der Rückgang der Bevölkerung mit türkischem und ex-jugoslawischem Migrationshintergrund auch durch den Umstand erklärt werden, dass diese meist schon länger in Wien lebende Gruppe in andere Segmente des Wohnungsmarkts wie sozialer Wohnungsmarkt und Eigentumsmarkt aufgestiegen sei.

Studienhinweis

Robert Musil, Florian Brand, Hannes Huemer, Petra Köck und Maximilian Wonaschütz: Die Transformation der Wiener Gründerzeitstadt. Dynamiken am Wiener Zinshausmarkt 2007–2019. Verlag der ÖAW 2021, ISBN 978-3-7001-8935-0.

„Die Suppe wird zu dünn“

Angesichts der relativ geringen Quantität der anderen sozialen Auswirkung der Verdrängung „bleibt nicht mehr viel über, um von Gentrifizierung zu reden – die Suppe wird zu dünn“, so Musil. Offensichtlich bedarf es anderer Erklärungszusammenhänge und anderer Theorien, um die Probleme auf dem Wiener Wohnungsmarkt zu diskutieren.

Die Studie hat auch gezeigt, dass die Wahrscheinlichkeit zur Veränderung mit der Zersplitterung der Eigentümerstruktur zusammenhängt. „Wenn sich Eigentümer nicht einigen können, kann es zur Parifizierung kommen“, so Musil. Auch eine zwischen Privat- und juristischen Personen gemischte Eigentümerstruktur sowie eine abnehmende Haltedauer sind Indizien für Veränderungen: So wurden vor allem Häuser parifiziert, die in den Jahren zuvor häufig weiterverkauft wurden.

Ein Stiegenhaus in einem Wiener Altbau
ORF.at/Christian Öser
In die Wohnungen zogen nicht zwingend einkommensstärkere Personen

Für die im Verlag der ÖAW und im Fachjournal „Urban Studies“ veröffentlichte Studie analysierte Musil gemeinsam mit dem Architekturbüro Huemer&Brand die Veränderung des gründerzeitlichen Häuser- und Wohnungsbestands. In Zusammenarbeit von Wissenschaft und Praxis wertete das Forscherteam umfangreiche Registerdaten aus. Anhand eines Samples von 90 Häusern beleuchtete es die Struktur der Eigentümer und Akteure, die hinter einer möglichen Gentrifizierung stehen.