Frauen und Kinder sitzen am Boden, Frau liest aus Kinderbuch vor
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Ukraine-Krieg

Grenzenlose Hilfe: „Wir halten alle zusammen“

Zu Tausenden kommen derzeit geflüchtete Menschen aus der Ukraine in Wien an. Die Hilfsbereitschaft in der Stadt ist groß. Viele Private unterstützen die Ankommenden tatkäftig, darunter auch Menschen aus der russischsprachigen Community.

Als Russland die Ukraine angriff, begann Tatjana Ertl aus Belarus sofort, sich mit anderen russischsprachigen Frauen in Wien zu vernetzen. „Wir haben eine Community mit 12.000 Mitgliedern, das sind russischsprachige Frauen in Österreich, zwei Gruppen auf Facebook, und das ist eine richtig starke Vernetzung. Wenn da zum Beispiel gepostet wird, dass für ein Schulkind aus der Ukraine Sachen für die Schule gesucht werden, wird das innerhalb der nächsten Minuten gespendet.“

Tatjana Ertl im Gespräch

Zuerst wurden Sachspenden gesammelt und in die Ukraine geschickt. Doch schon nach wenigen Tagen habe sie gesehen, dass die ersten Flüchtlinge – hauptsächlich Frauen mit ihren Kindern – in Wien ankommen, erzählt Ertl. Punktuell gebe es Zusammenarbeit mit dem Austria Center und der Caritas, an die die Frauen Sachspenden weitergeben. Gefördert werden sie nicht, sagt Ertl gegenüber „Wien heute“: „Wir sind selbständig und besorgen uns das alles selbst.“

Im Partyraum gestartet

Ertl wohnt in einer Wohnanlage gleich gleich beim Austria Center. Im Partyraum des Hauses richtete sie kurzerhand gemeinsam mit einer Freundin aus Sewastopol in der Krim, Valeriya Kaiser, eine Art Verteilzentrum ein. „Wir haben dort einfach die Erstverversorgung organisiert für die Mütter mit ihren Kindern.“ Das war aber nicht allen Nachbarn gleich recht.

Die Frauen sahen sich nach einer Alternative um und stießen auf der Suche nach neuen Räumlichkeiten auf den Verein „Österreich Hilft Ukraine“ (OHU), gegründet von einer Ukrainerin. Sie schlossen sich zusammen und bezogen zunächst einen Lagerraum im Erdgeschoß eines Bürogebäudes in der Fernkorngasse 10 in Favoriten.

Valeriya Kaiser im Gespräch

Unbenutztes Büro zur Verfügung gestellt

Dann kam unerwartete Hilfe von weiter oben: Die im Dachgeschoß beheimatete Providerfirma Nessus stellte dem Verein kurzerhand einen großen freien Raum im eigenen Büro zur Verfügung."Viele Büros stehen hier leer und da haben wir uns gedacht, der Untermieter ist vor kurzem ausgezogen, wir haben hier fertige Büroflächen und das können sie dann einfach nutzen. Das ist auch für die Kinder angenehmer, es ist beheizter, wir stellen Getränke zur Verfügung", sagt einer der Geschäftsleiter, Michael Mesaric.

Der Stützpunkt kann hier auf unbestimmte Zeit bleiben. Die Hilfe wurde von den Helferinnen begeistert angenommen. Die Nessus-Mitarbeiterinnen und -Mitarbeiter helfen tagtäglich tatkräftig mit, sie hätten die Räume sogar für sie eingerichtet, Kindermalbücher, Teppiche und Matratzen gebracht und ein Willkommensplakat für sie erstellt, erzählt Ertl.

Täglich kommen 50 bis 60 Familien

Platz und Raum brauchen die Helferinnen in der Tat dringend, denn es kommen immer mehr hilfesuchende Mütter mit ihren Kinder in der Fernkorngasse vorbei. Sie müssen oft unten vor dem Lift warten, weil es sonst im Dachgeschoß zu eng wird: „Im Durchschnitt haben wir täglich zirka 50 bis 60 Familien“, so Ertl.

Helferinnen vor Regal mit Hygienartikel und Babynahrung
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Die Frauen sollen in der errichteten Anlaufstelle in der Fernkorngasse für sich und ihre Kinder das Nötigste bekommen

„Viele Mütter hier reden mit uns Ukrainisch und wir antworten auf Russisch“, schildert Ertl die Kommunikation. Ihre Freundin Valeriya, die einen russischen Vater und eine ukrainische Mutter hat, kann sich in beiden Sprachen gut verständigen, ihr Muttersprache ist aber Russisch. Vor allem die Kinder hier sprechen meist Ukrainisch. "Diese Frage der Nation oder woher ich komme, spielt keine Rolle“, betont Ertl.

„Wir sind multikulturell“

„Wir sind sozusagen multikulturell, da gibt es viele Menschen aus Russland, Ukraine, Usbekistan, Rumänien, Moldawien, Georgien, wir sprechen Russisch, Ukrainisch gemischt“, sagt Kaiser. „Wir halten alle zusammen, das ist wichtig.“ Sie habe hier von niemandem gehört, dass sie Ukrainisch sprechen solle.

Unter den zahlreichen weiteren Helferinnen ist auch eine junge Ärztin aus Russland: „Ich habe eine Message auf Instagram gesehen, dass sie Leute brauchen hier.“ Da habe sie sich gleich gemeldet, erzählt die 24-jährige Aliia. Sie kam erst vor ein paar Monaten nach Wien. Auch die beiden Initiatorinnen kamen als Studentinnen nach Wien, Tatjana Ertl vor elf, Valeriya Kaiser vor 20 Jahren.

Beide sind neben ihrem Engagement berufstätig. Zu helfen und nicht tatenlos zuzusehen, ist ihnen sehr wichtig. Ertl ist in der Finanzbranche tätig, Kaiser arbeitet normalerweise als Fremdenführerin in Wien – vor allem für russische und ukrainische Gäste: Derzeit habe sie allerdings nicht viele Anfragen und sei hauptsächlich mit dem Hilfsverein beschäftigt, erzählte sie. „Ich liebe meinen Job und hoffe, dass ich irgendwann wieder Anfragen habe und dann wieder als Fremdenführerin in Wien tätig bin.“

Mehr als Windeln, Medikamente und Kleidung

Die Helferinnen versuchen den Frauen und Kindern mehr zu geben als Windeln, Hygieneartikel, Babynahrung, Medikamente und Kleidung. Eine Frau aus der Ukraine erzählt uns, dass ihr Baby bei der Ankunft erkrankt gewesen sei und sie von Tatjana alles bekommen habe, was sie für die Erstversorgung gebraucht habe. Seither komme sie immer wieder – und außerdem einmal pro Woche zum Essen zu Tatjana nach Hause. Das Wichtigste sei für sie die moralische Unterstützung, die sie hier erhalte.

Den Menschen werde erklärt, was sie für einen Schul- oder Kinderartenplatz machen sollen, was sie sich Wien an Sehenswürdigkeiten anschauen können. „Ein bisschen Ablenkung und positive Gedanken bringen“, formuliert es Ertl. In der Fernkorngasse hat sie einmal in der Woche eine Lesestunde für Kinder organisiert. „Die Kinder freuen sich darauf und bekommen ein bisschen Heimatgefühl.“

Russischsprachiger Verein hilft

Auch ein russischsprachiger Hilfsverein in Wien hilft Frauen und Kindern aus der Ukraine – in Favoriten

„Viele gehen mit einem Lächeln nach Hause“

Viele Menschen hier bräuchten vor allem auch psychologische Hilfe, ergänzt Kaiser. Die beiden Frauen versuchen die Ankommenden auch mit viel Wärme und Zeit zu unterstützen. „Und das gelingt uns auch. Wir sehen viele Mütter, die gehen mit einem Lächeln von uns nach Hause. Das ist für uns Ziel Nummer eins.“ Das größte Problem für die Menschen? „Viele haben Heimweh“, erzählt Ertl. Sie seien hierhergekommen, die Angst lasse nach und das Heimweh werde immer stärker. „Sie wissen nicht, wann es zu Ende geht, viele möchten nach Hause.“

Kinder und Erwachsene sitzen mit Spielzeug auf Decke
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Für Kinder und ihre Mütter gibt es auch Platz und Raum, um zur Ruhe zu kommen

Und die meisten planten auch gar nicht, lange hier zu bleiben, so Ertl weiter. "Sie sind hier auf einer Durchreise“ und wollten daher oft keinen Deutschkurs machen. „Das ist auch für mich schwer, weil ich kann niemandem sagen, wann es ist vorbei aber wir müssen den Menschen einfach sagen, dass sie hier einen Kurs besuchen müssen, damit sie sich integrieren können, auch wenn es nur für ein paar Monate ist, damit sie sich verständigen können – in der Apotheke, Bank, den Geschäften oder auch im Kindergarten, wo sie ihre Kinder hinbringen.“

„Wir helfen so, wir wir können“

Sie sage den Menschen, die hierherkommen jedoch nie, dass sie verstehe, was sie durchgemacht haben, denn sie wisse nicht, wie es sei, vor Bomben wegzulaufen. Doch sie sei auch Mutter von zwei Kindern und könne verstehen, wie es sei, mit Kindern alleine hier zu sein, sagt Ertl. „Wir helfen so, wir wir können.“