Gleich die erste Premiere am 29. September ist dezidiert Mahler gewidmet. Aus dessen Jugendwerk, der Kantate „Das klagende Lied“, und den „Kindertotenliedern“ wird der Abend „Von der Liebe Tod“ geformt. Für die Regie verantwortlich ist Calixto Bieito. Gustav Mahler war nicht nur einer der bedeutendsten Komponisten und Dirigenten, sondern auch selbst Direktor der Wiener Staatsoper. Sein Amt trat er vor 125 Jahren an.
„Ich habe nicht vor, aus Mahlers Wirken ein Motto herauszuleiern“, betonte Roscic. Und: Es gehe nicht um den Rückgriff auf eine Ästhetik, sondern eine Inspiration aus dem Geist heraus, stets den kompromisslosen Weg in die Werke zu suchen.

Malin Byström in neuer „Salome“-Inszenierung
Am 4. Dezember dann feiert Regiealtmeister Keith Warner sein Hausdebüt mit Wagners „Die Meistersinger von Nürnberg“, für das ein Ensemble um Michael Volle, Wolfgang Koch und Georg Zeppenfeld versammelt wird. Dann wird nach 50 Jahren die große „Salome“-Inszenierung von Boleslaw Barlog ersetzt, wenn am 2. Februar der 47-jährige Franzose Cyril Teste, der vom Sprechtheater kommt, die Strauss-Oper neu deutet. Die Titelpartie wird die 48-jährige Schwedin Malin Byström übernehmen, der Roscic eine große Zukunft am Haus vorausraunte.
Weiter geht es am 5. März mit „Le nozze di Figaro“ als dem von Mahler während seiner Direktionszeit meistdirigierten Werk, mit dem die Da-Ponte-Trilogie von Barry Kosky am Haus fortgeführt wird. Fortgesetzt wird auch das Monteverdi-Projekt, erklingt doch am 2. April erstmals „Il ritorno d’Ulisse in Patria“, wobei wieder der Concentus Musicus die musikalische Gestaltung übernimmt.
Den Premierenabschluss der Saison bildet dann Francis Poulencs „Dialogues des Carmélites“, die am 21. Mai 2023 von der jungen Salzburgerin Magdalena Fuchsberger gestaltet wird. „Ich halte dieses Werk für uneingeschränkt repertoiretauglich, weil die Musik so magisch ist“, begründete Roscic seine Wahl, das Werk nach 1964 erstmals wieder auf den Spielplan zu heben.

Zwei Ballett-Premieren
Zu diesen sechs Neuproduktionen kommt eine Jugendoper-Premiere, Ludger Vollmers gleichnamige Adaption des Herrndorf-Romanerfolgs „Tschick“, die ab 18. Dezember vor dem Eisernen Vorhang gespielt wird. Und das Staatsballett bringt zwei neue Premieren ans Haus, am 24. Oktober „Dornröschen“ mit Musik von Tschaikowsky, dessen Choreografie Staatsballettchef Martin Schläpfer selbst gestaltet, sowie am 27. April 2023 den zweiteiligen Abend „Goldberg-Variationen“, der aus „Tabula rasa“ mit Musik von Arvo Pärt und dem titelgebenden Klavierwerk Bachs besteht.
Musikdirektor Philippe Jordan, der bei der Saisonpräsentation am Freitag nicht zugegen war, leitet selbst drei Premieren und dirigiert noch fünf weitere Werke in der künftigen Spielzeit. Und in der Riege der renommierten Hausgäste finden sich Namen wie Nina Stemme, Piotr Beczała, Elīna Garanča, Asmik Grigorian, Jonas Kaufmann oder Sonya Yoncheva, während Starbass Günther Groissböck sogar als neues Ensemblemitglied verpflichtet ist. Gar sein Hausdebüt wird indes Florian Boesch im Mahler-Abend feiern.
Nur mehr 449 Stehplätze
Neuerung gibt es auch bei den in der Opernszene legendären Stehplätzen des Hauses, wie Geschäftsführerin Petra Bohuslav ankündigte. Bereits ab 2. Mai wird die in der Pandemie eingeführte Bestuhlung mit 169 Sitzen auf Stehplätze rückgebaut. Diese sind allerdings künftig lockerer gruppiert, weshalb es nur mehr 449 anstelle der einstigen 567 Plätze geben wird.
Mit der neuen Saison wird dann auch die Einheitlichkeit der Stehplatzpreise aufgehoben. Ab dann werden Plätze im Parterre 18 Euro kosten, jene am Balkon 13 Euro, wobei es weiterhin die Reduktionen alle mit BundestheaterCard-gibt, die nun auch einen Tag vor Aufführung elektronisch buchen können. „Wir haben nicht nur zum Teil die teuersten Karten der Opernwelt, wir haben auch weiterhin die günstigsten“, unterstrich Roscic: „Ein Haus, das sich Staatsoper nennt, wird von allen finanziert und hat für alle da zu sein.“
„Werde mich wieder bewerben“
Ambivalent fällt indes für Roscic der Blick auf die laufende Saison aus: „Ich finde sie viel schwieriger als 20/21“. Zumindest habe damals mit den vielen Lockdowns Klarheit geherrscht. Aber immerhin bleibe man trotz Schließungen, kurzfristigen Umbesetzungen und der Absage des Opernballs im Budget. Und mit diesen Zahlen im Rücken kündigte der seit 2020 amtierende Roscic angesichts der laufenden Neuausschreibung seines Postens ab 2025 an: „Ich werde mich wieder bewerben.“
Debatte um russische Künstler „Bubble-Thema“
Klar positionierte sich der Staatsopern-Direktor auch in der Debatte um das Engagement russischer Klassikkünstlerinnen und -künstler in Zeiten des Ukraine-Krieges. „Das Thema ist ein unglaubliches Bubble-Thema. Ich glaube, dass das Publikum daran vollkommen desinteressiert ist“, meinte Roscic.

Zugleich stehe hinter der Diskussion letztlich nicht die eigentliche Sache. „Da werden die Opfer instrumentalisiert, um Rechnungen in der Kulturszene zu begleichen. Und da bekommt Teodor Currentzis ein gerüttelt Maß ab.“ Der griechisch-russische Stardirigent und dessen Orchester MusicAeterna, das als freies Ensemble in St. Petersburg angesiedelt ist, sind angesichts der Unterstützung durch die kremlnahe VTB-Bank und eine ausbleibende dezidierte verbale Stellungnahme des Maestros in die Kritik geraten.
So wurde ein für den 12. April vorgesehenes Ukraine-Benefizkonzert mit Currentzis und MusicAeterna kurzfristig abgesagt. Wenn sich die Kritiker über etwaige Abhängigkeiten beschwerten, sei die Forderung sehr klar, so Roscic: „Liebe EU, hol dieses Ensemble, hol dieses Orchester, diesen unfassbar guten Chor nach Europa. Befrei diese Künstler aus der Abhängigkeit.“
Roscic gegen Berufsverbot für Netrebko
Auch die Staatsoper ist von den Debatten nicht unbetroffen. So habe Anna Netrebko für die kommende Spielzeit einen aufrechten Vertrag für die „Aida“-Wiederaufnahme am 14. Jänner 2023 am Haus, wird aber nicht angekündigt, weil bei Drucklegung der Spielzeithefte die Situation noch zu verworren war. Immerhin habe sich die Sopranistin nach einiger Zeit klar gegen den Krieg in der Ukraine positioniert. „Den Moment der Besinnung – ein langer Moment – muss man jemandem auch zugestehen“, so Roscic. „Ich persönlich bin nicht der Ansicht, dass man Frau Netrebko in dem Land, dessen Staatsbürgerschaft sie besitzt, ein Berufsverbot erteilen sollte“, stellte der Operndirektor in Bezug auf die Austro-Russin fest.
Allgemein gelte für alle Bundestheater, dass selbstredend Menschen, die sich mit dem russischen Angriffskrieg identifizierten, nicht an die Häuser engagiert würden. Aber: „Es steht uns nicht zu, Menschen dazu aufzufordern, sich zu deklarieren.“