Stimmabgabe in einer Wahlkabine
APA/GEORG HOCHMUTH
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Politik

Wo nur die Hälfte wählen darf

Der Anteil der Menschen ohne Wahlrecht auf Bundes- und Landesebene wird immer größer. Rund eine halbe Million darf in Wien wegen einer anderen Staatszugehörigkeit nicht wählen. In einigen Bezirkgrätzeln beträgt ihr Anteil 50 Prozent.

Ohne österreichische Staatsbürgerschaft wählen dürfen in Wien nur andere EU-Bürgerinnen und -Bürger auf Bezirksebene. Waren es 1983 nur sieben Prozent Nichtwahlberechtigte, stieg die Zahl 2002 auf 16 Prozent, besagen Daten des Meinungsforschungsinstituts OGM. Bei der letzten Wiener Gemeinderats- und Landtagswahl waren 30 Prozent der in Wien lebenden Menschen nicht wahlberechtigt.

Bei der bevorstehenden Bundespräsidenteschaftswahl am 9. Oktober sind 1.133.000 Wienerinnen und Wiener wahlberechtigt. Drei von zehn in Wien lebende Personen über 16 Jahre sind es aber nicht – in Summe rund 500.000 Menschen. Jeder Zweite der Nichtwahlberechtigten lebt laut Statistik Austria schon zehn Jahre oder länger in der Stadt.

Höchster Anteil in in Rudolfsheim-Fünfhaus

Der höchste Anteil der Nichtwahlberechtigten findet sich mit 42 Prozent in Rudolfsheim-Fünfhaus. In dicht bebauten Grätzln in den Bezirken Rudolfsheim-Fünfhaus, Favoriten, Brigittenau und Ottakring sind es laut Grätzl-Analyse des OGM sogar um die 50 Prozent, weiter stadtauswärts in diesen Bezirken zwischen 15 und 23 Prozent.

Filzmaier zu Wahlrecht

Politikwissenschafter Peter Filzmaier spricht über die Auswirkungen, die der Ausschluss vieler Menschen bei einer Wahl haben kann.

Politikwissenschaftler Peter Filzmaier spricht von einem demokratiepolitischen Defizit und negativen Folgen, denn auch Menschen, die keine österreichische Staatsbürgerschaft haben, aber in Wien leben, seien von den Entscheidungen der Politik betroffen, ohne aber mitentscheiden zu dürfen. Daher könnten sich möglicherweise unerwünschte Ventile für Unzufriedenheit bilden.

„Viele Streitfragen“ zu klären

Viele, sogar die Mehrheit, sei schon von Geburt an in Österreich, so Filzmaier im „Wien heute“-Interview. Es bräuchte aber eine Zweidrittelmehrheit, um das Wahlrecht auch für diese Gruppe einzuführen. Und da ÖVP und FPÖ strikt dagegen seien, bestehe eigentlich derzeit keine Chance. Aber selbst wenn man sich einig wäre, gebe es viele Streitfragen zu klären, etwa wie lange jemand hier leben müsste, um die Wahlberechtigung zu erlangen.

Aus wissenschaftlicher Sicht sei es denkbar, das Wahlrecht sowohl an die Staatsbürgerschaft als auch an den Wohnort zu knüpfen, wenn auch erst nach einer langen Zeit des Aufenthalts, sagt Filzmaier. Er kann sich eine Reform vorstellen, rät aber, sie „möglichst fern von jeder Wahl zu“ diskutieren. Bundespräsident Alexander Van der Bellen hatte sich schon im Mai mit dem Vorschlag, Einbürgerungen zu erleichtern, eine Abfuhr bei ÖVP und FPÖ geholt.

Immer mehr Menschen dürfen nicht wählen

Am 9. Oktober ist Bundespräsidentenwahl. Bundesweit dürfen aber aktuell 1,4 Millionen Menschen, in Wien rund eine halbe Million Betroffene, gar nicht an der Wahl teilnehmen. Sie haben die österreichische Staatsbürgerschaft nicht.

EU-Bürger oft nicht an Staatsbürgerschaft interessiert

Der Grund für den hohen Anteil an Nichtwahlberechtigten in Wien seien die strengen Einbürgerungsgesetze in Österreich und auch die damit verbundenen finanziellen Hürden, die für manche Gruppen abschreckend seien, sagt
Migrationsforscherin Judith Kohlenberger vom Institut für Sozialpolitik an der WU Wien gegenüber „Wien heute“.

EU-Bürger, allen voran deutsche Staatsbürger, hätten aber oft gar kein Interesse an der österreichischen Staatsbürgerschaft, weil damit kaum Vorteile verbunden seien. Das Instrument der Doppelstaatsbürgerschaft gibt es in Österreich nicht mehr.

„Doppelstaatsbürgerschaften zukunftsweisend“

In einer mobilen Welt seien aber sogenannte Mehrfachzugehörigkeiten immer mehr Thema, so die Expertin. „Wir haben aber derzeit in der österreichischen Staatsbürgerschaft kein Instrument, das das abbilden kann, sprich Doppelstaatsbürgerschaften. Ich glaube, das wäre eigentlich ein zukunftsweisendes Instrument“, so Kohlenberger.

Viele Menschen, etwa mit Wurzeln in Drittstaaten wie etwa der Türkei, wollen ihre ursprüngliche Staatsbürgerschaft nicht hergeben. Eine Einbrügerung in Österreich sei für diese Gruppe daher vielleicht gar nicht „so attraktiv“, so die Expertin.

„Hürden kaum zu überspringen“

Für die Gruppe der Einbürgerungswilligen andererseits seien die Hürden so hoch, dass sie laut der Expertin für viele kaum zu überspringen sind – „ein relativ hoher Einkommensnachweis, teilweise auch sehr hohe Gebühren bei der Beantragung, eine ununterbrochen Aufenthaltsdauer und so weiter“, krisitiert die Soziologin: „Ich glaube, an diesen Stellschrauben könnte man schon drehen.“

Aus dem Büro des zuständigen Vizebürgermeisters Christoph Wiederkehr NEOS) heißt es dazu gegenüber „Wien heute“, dass die Wiener Behörde MA 35 im Vergleich zu allen anderen Bundesländern mit Abstand die meisten Einbürgerungsanträge stemme und
man tue alles, damit die Verfahren schneller abgewickelt werden. Das Personal werde laufend aufgestockt.

„Wohn-Wahlrecht“ nach drei bis fünf Jahren

Der Soziologe und Integrationsexperte Kenan Güngör schlägt ein „Wohn-Wahlrecht“ nach drei bis fünf Jahren Aufenthalt vor. SOS-Mitmensch will für alle Menschen mit Hauptwohnsitz in Wien das aktive und passive Wahlrecht schon nach drei Jahren.