Detailaufnahme aus einem Umspannwerk
ORF.at/Roland Winkler
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Wirtschaft

Debatte über „verrückten Strommarkt“

Bis zu zehn Milliarden Euro könnte die Wien Energie brauchen, um nicht vom Börsenhandel ausgeschlossen zu werden. Bürgermeister Michael Ludwig (SPÖ) und Experten zu Fragen, warum solche Sicherheitskautionen nötig sind und warum keine Notbremse gezogen wurde.

Im Interview mit ORF-Wien-Chefredakteur Oliver Ortner ließ Bürgermeister Ludwig am Anfang aufhorchen. Auf die Frage, warum Koalitionspartner, Opposition und Öffentlichkeit erst jetzt von den Turbulenzen der Wien Energie erfahren, sagte er, „der Koalitionspartner war über diesen Umstand informiert“. Er erwarte, dass NEOS die Kaution auch mitbeschließen werde. NEOS-Wien-Chef und Vizebürgermeister Christoph Wiederkehr hatte aber Dienstagfrüh eine „schonungslose Aufklärung“ „des Schlamassels“ gefordert – mehr dazu in Wien Energie: Rechnungshof prüft Geschäfte (wien.ORF.at).

Den Vorwurf der Opposition, nicht informiert worden zu sein, wollte Ludwig so nicht gelten lassen. Es sei in der Stadtverfassung klar geregelt, „nämlich dass ich in der nächstmöglichen Gelegenheit die zuständigen Gremien darüber zu informieren“ habe. „Unverzüglich“ bedeute in der nächsten Sitzung. Da werde nicht nur berichtet, „sondern es ist ja dann auch eine Beschlussfassung in letzter Konsequenz des Gemeinderates notwendig“, und „das wird selbstverständlich auch so geschehen“.

Dass bei einem Umfang von insgesamt 1,4 Milliarden Euro nicht sofort, sondern gemäß der Stadtverfassung beim nächstmöglichen Termin – also mit Verzögerung – informiert werde, stellt für Ludwig kein Problem dar: „Es ist ja nicht so, dass wir irgendwem ein Darlehen geben, sondern einem gut gehenden Unternehmen, den Wiener Stadtwerken, der Wiener Energie. Das ist ja ein solides, gut gehendes Unternehmen (…), das ja in unserem Eigentum ist.“

Europaweite Lösung „sehr gut“

Ludwig wiederholte im weiteren Verlauf des Gesprächs, die Versorgungssicherheit sei am wichtigsten. In den zu 91 Prozent gefüllten Gasspeichern sei ja auch Liquidität gebunden. Andererseits habe man in den letzten Wochen und Monaten eine sich ständig ändernde Preisentwicklung gehabt. Das sei auch der Grund dafür, dass er nicht nur für Wien Energie, sondern für alle österreichischen Energieunternehmen einen finanziellen Schutzschirm von der Regierung fordere, wie es ihn in vielen anderen Ländern bereits gebe.

Ludwig verwies darauf, dass es die Forderung nach einer Energiepreisbremse für Haushalte und nach einem Energiepreisdeckel im Idealfall nicht nur für Österreich, sondern darüber hinaus, schon länger gebe. Er finde das „sehr klug von der Europäischen Kommission, auch von der Präsidentin (Ursula, Anm.) von der Leyen und der tschechischen Ratspräsidentschaft, dass sie jetzt für 9. September einen Energiegipfel einberufen haben, um eine europaweite Lösung zu finden“.

Pech oder Versagen?

Ludwig sprach in „Wien heute“ von einer außergewöhnlichen Situation auf dem Energiemarkt in den vergangenen Tagen: „Wir haben bemerkt, dass hier durchaus auf den internationalen Energiemärkten spekulative Kräfte unterwegs sind und dass es notwendig ist, auf den Börsen eine entsprechende finanzielle Unterfütterung der Preise zu bieten. Wie gesagt, das ist ähnlich wie eine Kaution, es ist nicht so, dass das Geld weg ist oder dass das eingesetzt ist, sondern dass es dazu dient, hier am Markt weiter tätig sein zu können.“

Dass der Rechnungshof und andere Gremien nun prüfen werden, begrüßte Ludwig. Es sei ihm wichtig, das transparent abzuwickeln. „Es gibt aus meiner Sicht heraus nichts zu verbergen. Die Geschäftsleitung der Wien Energie hat sehr glaubwürdig versichert, dass es hier nicht um Spekulation geht“, so Ludwig. Personelle Konsequenzen seien derzeit kein Thema. Wenn etwas nicht korrekt abgelaufen sei, dann werde das genauer geprüft und – falls notwendig – würden dann auch Konsequenzen gezogen: „Das zeichnet sich derzeit aber nicht ab.“

Wien Energie weist Spekulationsvorwürfe zurück

Wie Bürgermeister Ludwig und Finanzstadtrat Peter Hanke (SPÖ) wies am Dienstag auch die Wien Energie Vorwürfe zurück, man habe an der Börse spekuliert. Wien-Energie-Aufsichtsrat Peter Weinelt betonte einmal mehr: „Es gibt keine Spekulation bei der Wien Energie.“ Spekulationen würden da keinen Platz haben, wenn es um die zuverlässige Versorgung mit Energie gehe: „Ein Spekulationsverbot ist in unseren Risikohandbüchern dezidiert festgehalten, wir tätigen selbstverständlich keine Leerverkäufe.“

Zur Versorgung Wiens müssten an den Energiebörsen die dafür notwendige Energie gekauft und selbst produzierter Strom verkauft werden. Das sei die einzige Möglichkeit, um große Mengen zu handeln und langfristig abzusichern. Wien Energie habe aktuell 4,48 Terawattstunden (TWh) Strom bis Ende 2024 im Verkauf an der Börse, also getätigte, aber noch nicht abgewickelte Positionen offen. „Das entspricht nicht einmal einer Jahresproduktion.“ 2021 habe die Wien Energie 6,28 TWh Strom selbst produziert.

Nötige Vorbereitung auf extreme Preisschwankungen

Am Montag habe Wien Energie 1,75 Mrd. Euro an Sicherheitskautionen für den Energiehandel aufbringen müssen. Diese Sicherheitsleistungen würden vor allem Stromverkäufe an der Strombörse betreffen, die bereits in der Vergangenheit getätigt, aber noch nicht abgewickelt wurden. Gemeinsam mit der Stadt habe man diese Garantieleistungen am Montag aufgebracht. Heute, Dienstag, brauche Wien Energie „gar keine zusätzlichen“ Garantien. Aber man wisse nicht, wo man in einer Woche, in einem Monat, in zwei Monaten stehe.

Seit Montag sei der Strompreis wieder um rund 23 Prozent gesunken, der Gaspreis um 13 Prozent. Die Wien Energie bekomme daher am Dienstag Sicherheitsleistungen in der Höhe von rund 800 Millionen Euro wieder zurück, hieß es weiter in der Aussendung. Aufgrund dieser Schwankungen seien mehrere Szenarien berechnet und mit der Stadt Wien und der Bundesregierung diskutiert worden. Im schlechtesten Fall würde die Wien Energie zehn Milliarden Euro brauchen, im besten Fall „gar keine Sicherheitsgarantien“ vom Bund.

Strommarkt spielt verrückt

Strom wird wie Schweinebäuche, Öl oder Kupfererz an der Börse gehandelt. Für Energieunternehmen wie die Wien Energie ein gängiges Geschäft, wie Industrieökonom Michael Böheim vom Wirtschaftsforschungsinstitut (WIFO) gegenüber Radio Wien betonte. Strom werde gekauft oder verkauft. Es geht nicht nur um den Austausch von Waren, sondern vermehrt auch um die Absicherung eines bestimmten Preises. Eine Möglichkeit dafür sind Waren-Termin-Geschäfte an der Strombörse, auch Future-Geschäfte genannt.

„Der Begriff Future sagt eigentlich schon, was das Programm ist: Das Interessante daran ist, dass sie heute hier und jetzt sich einen Preis und eine Menge zu einem gewissen Datum von einem bestimmten Gut sichern können“, erklärte Böheim. An der Börse müssen zur Absicherung Sicherheitskautionen hinterlegt werden. Solche Geschäfte sorgen laut Böheim im Optimalfall sogar für eine Risikominimierung, da man die Entwicklung am Markt normalerweise im Blick hätte.

Future-Geschäfte: attraktiv und gefährlich zugleich

Wenn man aber zu spekulieren beginne, dann hebe das das Risiko hingegen an. Spekulieren bedeute hier, „wenn Sie eine gewisse Preisvorstellung haben. Wenn Sie sagen, der Preis für mein Gut wird steigen oder sinken, und je nachdem werden Sie sich am Future-Markt positionieren, wenn das funktioniert, dann fahren Sie einen großen Gewinn ein. Aber natürlich kann das auch in die andere Richtung gehen. Wenn das schief geht, dann ist der Verlust entsprechend groß“, so Böheim in „Wien heute“.

Böheim machte das an einem Beispiel deutlich: Wenn es brennt, läuft man zum Ausgang und verliert seinen Einsatz. Oder man bleibt und hofft, dass trotz Feuer alles so kommt, wie man es erwartet hat. Doch hinten nach sei man immer schlauer. In manchen Situationen wäre es jedenfalls besser, einen kleineren Verlust in Kauf zu nehmen, als weiter auf eine Preisentwicklung zu hoffen, die sich nicht realisieren lasse.

Für den Finanzexperten Gerald Zmuegg ist der Fall klar. Er hat sich genau angeschaut, welche Geschäfte Wien Energie Ende 2021 abgeschlossen hat – und die sind seiner Meinung nach „definitiv Spekulation“: „Das heißt, es wurde de facto die ganze Jahresstromversorgung und ein halbes Jahr mehr an der Börse verkauft. (…) Aber wenn ich als Verkäufer verkaufe, dann spricht man von Spekulation.“ Die Angaben Zmueggs zur verkauften Strommenge unterscheiden sich damit deutlich von denen, die die Wien Energie nennt.

Rückzahlung der Kaution hängt von Preisentwicklung ab

Dass die Kaution, wie von der Stadt versichert, wieder zurückkomme, ist laut Industrieökonom Böheim nicht so sicher. Denn das entscheide nicht die Politik, sondern der Marktpreis. Die Kaution diene ja als Sicherstellung und fließe zurück, wenn die Kaution nicht mehr benötigt werde. Wenn sich der Preis aber nicht in die erwartete Richtung entwickle, dann komme auch die Kaution nicht zurück. Vorhersagen, wie sich der Marktpreis entwickelt, sind aber gerade in diesen „verrückten“ Zeiten unsicherer denn je.