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Missbrauch an Schule: Mindestens 40 Opfer

Nach Fällen von sexuellem Missbrauch an einer Sportmittelschule durch einen Sportlehrer liegt nun der vorläufige Endbericht der Untersuchungskommission vor. Die Rede ist von 40 Opfern und einem „Systemversagen“ der Bildungsdirektion. Diese beauftragte nun alle Schulen mit Kinderschutzkonzepten.

„Der vorläufige Endbericht der Kommission sowie die gesammelte Datenlage untermauern ein Systemversagen in diesem Fall auf allen beteiligten Ebenen“, heißt es im Endbericht. Für das Gremium ist „die Existenz von 40 Opfern belegt“, wie es in dem 30-seitigen Bericht heißt. Zum Teil soll er die Kinder auch unter K.-o.-Tropfen missbraucht haben. 25 Betroffene seien bekannt, 15 weitere sind auf Foto- und Videomaterial zu sehen, das bei einer Hausdurchsuchung in der Wohnung des Lehrers sichergestellt wurde. Diese 15 Betroffenen konnten bisher nicht identifiziert werden, bestätigte Bildungsdirektor Heinrich Himmer am Montagnachmittag vor Journalistinnen und Journalisten.

Der Lehrer war als Sportlehrer in einer Wiener Sportmittelschule tätig und auch als Sporttrainer und Feriencampbetreuer und soll Dutzende Schüler sexuell missbraucht und kinderpornografisches Material angefertigt haben. Der betroffene Lehrer beging im Mai 2019 Suizid, nachdem eine Missbrauchsanzeige und eine darauffolgende Hausdurchsuchung durchführt wurde.

Übergriffe auch an einer Volksschule vermutet

Neu im Untersuchungsbericht ist, dass der Sportlehrer auch an einer unmittelbar an die Mittelschule angrenzenden Volksschule unterrichtet hatte: „Die Kommission empfiehlt der Schulaufsicht der benachbarten Volksschule, weitere Befragungen an der Volksschule durchzuführen, weil die Kommission die Tätigkeit des Täters am Standort nicht final klären konnte.“ Wie Bildungsdirektor Himmer dazu ausführte, sei der Pädagoge „als zweiter Lehrer und nie allein“ an der Volksschule tätig gewesen. Hinweise auf sexuelle Übergriffe oder Missbrauchshandlungen in der Volksschule sind der Bildungsdirektion derzeit nicht bekannt.

Briefe an Volsschüler

„Wir werden das aber nicht auf sich beruhen lassen“, versicherte Himmer. Die Bildungsdirektion wird daher nun auch Briefe an ehemalige Schüler der Volksschule verschicken, um auf diesem Weg von allfälligen Missbrauchshandlungen zu erfahren und Hilfe anzubieten. Der vorläufige Endbericht sei „eine schonungslose Aufarbeitung, soweit es der Kommission möglich war“, sagte Himmer.

Die Kommission sei keine Ermittlungsbehörde und habe keine Akteneinsicht in die staatsanwaltschaftlichen Erhebungen zu diesem Fall. Neben dem früheren und dem aktuellen Direktor der Mittelschule wurden zwölf Lehrkräfte, vier ehemalige Schülerinnen und Schüler, drei externe Personen und vier Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Bildungsdirektion durch die Kommission befragt.

Sieben Anzeigen an die Staatsanwaltschaft

Auf Basis dieser Angaben und der daraus gewonnen Erkenntnisse brachte die Bildungsdirektion insgesamt sieben Sachverhaltsdarstellungen bei der Staatsanwaltschaft ein. Diese richteten sich gegen zwei mögliche Mittäter des Pädagogen, aber auch gegen den früheren und nunmehrigen Schulleiter, weil aus Sicht der Bildungsdirektion dem Verdacht in Richtung sittliche Gefährdung von Personen unter 16 Jahren (§ 208 StGB) bzw. Begünstigung (§ 299 StGB) nachgegangen werden sollte. Sämtlichen sieben Anzeigen sei seitens der Staatsanwaltschaft bis Ende voriger Woche nicht nachgegangen worden. Die Anklagebehörde habe mangels Vorliegen eines konkreten Anfangsverdachts keine Ermittlungen eingeleitet, bestätigte Himmer.

„Nicht zu erklären“ ist es für Himmer, wieso der mutmaßliche Täter kurz vor seinem Selbstmord noch einige Tage in der Schule unterrichten konnte – entsprechende Zeugenaussagen liegen der APA vor – , obwohl der Schulleiter Kenntnis davon erlangt hatte, dass ihn ein früherer Schüler wegen sexuellen Missbrauchs angezeigt hatte. „Aus meiner Sicht hätte ein sofortiger Dienstleistungsverzicht stattfinden müssen“, meinte Himmer.

Verpflichtendes Kinderschutzkonzept in Auftrag gegeben

Der Bildungsdirektor betonte im Gespräch mit „Wien heute“, er hätte alle Wiener Schulen damit beauftragt, bis zum Ende des Jahres Kinderschutzkonzepte mit einer Risikoanalyse zu erstellen, was die Kooperation mit Sportvereinen und der Teilnahme von schulfremden Personen – etwa als Trainerin oder Trainer und Ausbildnerin oder Ausbildner – an mehrtägigen Schulveranstaltungen betrifft. Ziel sei, dass am Ende des Jahres jede Schule ein Kinderschutzkonzept und eine Risikoanalyse erstellt hat, die dann jährlich zu überarbeiten ist, erläuterte Himmer.

Bildungsdirektor zu Missbrauchsfällen

Am Montagabend war Himmer zu Gast bei Martin Thür in der ORF-„ZIB2“. Auf die Einstiegsfrage des Moderators, wie es sein könne, dass ein solcher Fall jahrelang unentdeckt bleiben könne, antwortete Himmer, dass er sich als Familienvater diese Frage ebenfalls stelle.

Täter galt als „bester Lehrer der Schule“

„Dieses soll enthalten, wo es Risiken geben könnte, dass es zu Übergriffen kommt, die nicht auffallen – weil oft ist es in einem versteckten Rahmen. Und wir haben auch in diesem Fall zum Beispiel die Rückmeldungen von Schülerinnen von Pädagoginnen, dass das der beste Lehrer der Schule war. Das heißt, häufig sind es die, die sich unersetzlich machen, die, die besonderes Engagement zeigen, wo alle glauben, das ist alles toll. Und daher gilt es jetzt, genauer hinzuschauen“, so Himmer.

Himmer betonte außerdem, dass es in ganz Österreich einen anderen gesetzlichen Rahmen bräuchte. Verbesserungen gebe es etwa bei der Behördenzusammenarbeit – „Strafregister, Auszüge und Ähnliches sollten auch wirklich so umfassend sein, dass wir auch Rückschlüsse daraus ziehen können“, sagte Himmer. Es müsse einfach gelingen, ein System zu installieren, um Missbrauchstäter im Bildungsbereich bei ersten Anzeichen „rechtzeitig aus dem Verkehr zu ziehen“.

„In Summe zu viele Fehler passiert“

„Schule muss ein sicherer Ort sein“, betonte der Bildungsdirektor. Daher werden dahin gehende Empfehlungen der Untersuchungskommission umgesetzt. Außerdem wird eine Kompetenzstelle Kinderschutz implementiert und die interne Kommunikation zwischen Schulen und der Bildungsdirektion verbessert. Eine neue „Meldekette“ mit der Polizei bzw. dem Landeskriminalamt habe man bereits vereinbart, legte Himmer dar.

„Es sind in Summe zu viele Fehler passiert“, bemerkte der Bildungsdirektor in Bezug auf den Anlassfall. Der Informationsaustausch zu Übergriffen müsste zwischen den einzelnen Behörden „klarer und auf einer gesetzlichen Grundlage“ verlaufen. Im konkreten Fall gebe es „viele, die nicht intensiv miteinander geredet haben“. Für die Kommunikation brauche es „ein genaues gesetzliches Regelwerk“, stellte Himmer fest. Es müsse einfach gelingen, ein System zu installieren, um Missbrauchstäter im Bildungsbereich bei ersten Anzeichen „rechtzeitig aus dem Verkehr zu ziehen“.

U-Kommission: „Keine Infos zu Missbrauch an Volksschule“

Der APA liegt eine fundierte Zeugenaussage vor, derzufolge der übergriffige Sportlehrer in den Schuljahren 2011/2012 bis 2014/2015 – möglicherweise im Rahmen eines Kooperationsprojekts – an der unmittelbar an die betroffene Mittelschule angrenzenden, baulich verbundenen Volksschule Turnen unterrichtet hatte. Zudem heuerte ein Bekannter des Lehrers – bis 2016 selbst Vertragslehrer an einer anderen Wiener Mittelschule, wo er in Missbrauchsverdacht geriet und in weiterer Folge aus dem Schuldienst ausschied – bereits 2017 als Trainer an der Volksschule an, wo er an Freitagnachmittagen eine Basketballgruppe „alleine betreute“, wie im Bericht der Untersuchungskommission vermerkt wird.

Von Übergriffen in der Volksschule wurde auch der Untersuchungskommission bis dato nichts bekannt: „Der Kommission liegen dazu keine weiteren Informationen vor.“ Allerdings war es 2018 in einem Basketballverein, der mit der Mittelschule eine Kooperation laufen hatte, nach mehreren Beschwerden über den Bekannten und Ex-Lehrer, der dort Burschen betreute und deren körperliche Nähe – etwa beim bzw. nach dem Duschen – suchte, dazu gekommen, dass die Kinder- und Jugendanwaltschaft (KJA) mit diesem Mann befasst wurde.

Unter Einbeziehung der Kinder- und Jugendanwaltschaft wurde im Dezember 2018 mit dem Trainer eine Vereinbarung getroffen, die ihn unter anderem verpflichtete, seine „Hilfsdienste“ beim Umziehen in der Garderobe einzustellen, sich Burschen körperlich nicht mehr zu nähern, Kinder unter 14 Jahren nicht mehr zu trainieren und den Kontakt zu Jugendlichen überhaupt nur mehr vereinsöffentlich zu gestalten. Im Gegenzug wurde vorerst von einer Anzeige abgesehen – mit Wissen und Zustimmung der Kinder- und Jugendanwaltschaft.

Vereinbarung nicht eingehalten

Der Basketballtrainer hielt sich aber nicht daran. Er ging weder – wie vereinbart – zur Männerberatung noch hörte er auf, Unmündige, d. h. unter 14 Jahre alte Kinder zu trainieren. Opferanwältin Herta Bauer, die mehrere von sexuellem Missbrauch betroffene Ex-Schüler vertritt, hält diesen Bekannten des Sportlehrers für einen möglichen Mittäter.

Seine Tätigkeit als Trainer hatte er erst 2019 eingestellt – nicht auf Betreiben der Kinder- und Jugendanwaltschaft, sondern weil der Wiener Basketballverband (WBV) die Reißleine zog. Laut WBV-Präsident Thomas Holzgruber wurde der Mann damals für alle Basketballaktivitäten gesperrt, und dem Sportverein wurde auferlegt, ihn nicht mehr als Trainer zu beschäftigen.