Chronik

Missbrauch: Vorwürfe von Ex-Schülerinnen

Im Missbrauchsfall um einen Sportlehrer an einer Mittelschule, der seit 2004 bis zu seinem Suizid im Mai 2019 mindestens 40 unmündige Buben missbraucht haben dürfte, gibt es nun weitere Vorwürfe gegen die Schule vonseiten zweier ehemaliger Schülerinnen.

Der APA liegen Aussagen von zwei Jugendlichen vor, die der tatverdächtige Pädagoge bis zuletzt als Klassenvorstand unterrichtet hatte. Diese werfen Fragen in Richtung der Schulleitung und der Bildungsdirektion auf. Sie sind bereits in den Bericht der eingesetzten Untersuchungskommission eingeflossen.

Die Jugendlichen schildern übereinstimmend, dass sie, aber auch ihre Eltern, über die Hintergründe des Selbstmords und die Vorwürfe gegen den Verstorbenen – ein Schüler hatte den Lehrer im April 2019 wegen sexuellen Missbrauchs angezeigt – bis in den Herbst 2019 hinein weitgehend im Unklaren gelassen worden seien.

Angeblich fragwürdige Zustände in Klasse

Ihnen zufolge herrschten in der Klasse, die sich aufgrund des Selbstmords ihres Klassenvorstands in Aufruhr befand, in den Wochen nach dem Suizid – was den schulischen Betrieb betrifft – fragwürdige Zustände. So soll der Direktor den Schülerinnen und Schülern gegenüber aggressiv geworden sein, sie wiederholt beschimpft und – behauptet zumindest eine frühere Schülerin – wörtlich „Arschlochklasse“ genannt haben: „Er hat uns beleidigt und angeschrien, dass aus uns nichts werden wird.“

Laut dieser Ex-Schülerin habe der Direktor – er leitet nach wie vor die betreffende Schule – bei anderer Gelegenheit „einige von uns vor der ganzen Klasse fertig gemacht“.

Bildungsdirektion: Direktor mehrfach befragt

„Der aktuelle Direktor wurde mehrfach von der zuständigen Dienstrechtsjuristin befragt. Es konnten in diesen Gesprächen keine schwerwiegenden Verfehlungen der Schulleitung oder anderer Lehrpersonen festgestellt werden, die zu dienstrechtlichen Konsequenzen führen können“, stellte dazu die Bildungsdirektion am Montag auf APA-Anfrage fest.

In einer der APA übermittelten Stellungnahme hieß es, die zuständige Dienstrechtsjuristin werde den Sachverhalt überprüfen: „Falls es sich um neue Vorwürfe handelt, wird sie eine neuerliche Befragung durchführen“. Die Bildungsdirektion ersuchte die Ex-Schülerinnen in diesem Zusammenhang explizit, sich mit ihren Wahrnehmungen im Sinne der Aufklärung auch an die Bildungsdirektion zu wenden.

Es werde „allen Beschwerden nachgegangen, wenn dazu die notwendigen Informationen übermittelt werden. Die Bildungsdirektion für Wien nimmt Vorwürfe über sexualisierte Gewalt sehr ernst und setzt alles daran, an der lückenlosen Aufklärung mitzuwirken“.

„Wurden nicht mehr unterrichtet“

Einer der beiden Ex-Schülerinnen zufolge soll die Klasse nach dem Suizid ihres Lehrers auch in schulisch-pädagogischer Hinsicht vernachlässigt worden sein: „Es gab einfach keinen wirklichen Unterricht mehr, ständig kamen andere Lehrer, die haben uns aber nie richtig unterrichtet, es gab immer nur Streit und Schreiereien.“ Die von der Bildungsdirektion entsandten Psychologen hätten der Klasse vermittelt, „nicht unterrichtbar“ zu sein.

Diese Schilderung bestätigt eine zweite ehemalige Schülerin. Nach dem Tod des Klassenvorstands „wurden wir im Grunde nicht mehr unterrichtet“. Viele hätten schlechte Noten bekommen und eigentlich die Klasse wiederholen müssen, dazu sei es dank des Direktors aber nicht gekommen, so eine Aussage, „weil der Direktor uns weghaben wollte“.

Schüler sollten „nicht darüber reden“

Folgt man den Ausführungen der beiden Jugendlichen, soll der Schuldirektor hinsichtlich des Lehrer-Selbstmords und aufkommender Gerüchte über die möglichen Hintergründe nachgerade eine Täter-Opfer-Umkehr betrieben haben. Der Direktor habe „uns angeschrien, dass wir nicht so viel darüber nachdenken und reden sollen, vor allem nicht in der Schule. Uns wurde insgesamt vermittelt, dass wir nicht darüber reden sollen, vor allem auch nicht mit anderen Schülern aus anderen Klassen“, heißt es in der einen Aussage.

In der großen Pause durfte die Klasse angeblich nicht mehr die Klassenräumlichkeit verlassen. Über die Zustände in der Klasse wurden den Aussagen der zwei Jugendlichen zufolge von Elternseite Beschwerden an den Schulleiter, aber auch an die Bildungsdirektion heran getragen. Der Direktor habe einer Mutter erklärt, „dass er nichts sagen darf, dass er einen Maulkorb bekommen hat von der Bildungsdirektion“.

Beschwerden bei Bildungsdirektion „nichts gebracht“

Diese Mutter soll sich bereits vor den Sommerferien 2019 bei der Bildungsdirektion über den Umgangston des Direktors gegenüber den Schülerinnen und Schülern beschwert haben. Aber diese und alle anderen Beschwerden hätten „nichts gebracht“, beschreibt die Ex-Schülerin.

Eingehender informiert wurden die Klasse und die Eltern demnach erst nach Schulbeginn im Herbst 2019, als der Schuldirektor und Psychologen der Klasse erklärten, dass ihr Klassenvorstand „nicht so ein guter Mensch war, wie wir geglaubt haben. Sie haben uns erzählt, dass er Kinderpornografie hergestellt hat, und sie haben angedeutet, dass er Kinder missbraucht hat“, wie sich eine frühere Schülerin erinnert.

Gruppenweise zu Psychologen

Laut Bildungsdirektion war das der Kenntnisstand zum damaligen Zeitpunkt und die Information, die die Bildungsdirektion seitens der Staatsanwaltschaft Wien bekommen hat. Noch am selben Tag und in den folgenden Wochen wurde die Klasse dann gruppenweise zu einer Psychologin gebracht, „die uns aber nicht gefragt hat, wie es uns geht“. Die Psychologin habe nur in Erfahrung bringen wollen, ob die Schülerinnen und Schüler etwas über die Straftaten des toten Lehrers wüssten.

„Die Schulpsychologie bietet Beratung und Unterstützung und fordert niemals dazu auf, etwas zu verschweigen“, hielt dem die Bildungsdirektion entgegen. Strafbare Handlungen seien immer an Polizei oder Staatsanwaltschaft sowie von Schulleitungen an die Bildungsdirektion zu melden, wurde dazu am Montag bekräftigt.

Auch aktuell werde am Schulstandort durch die Schulpsychologie Unterstützung angeboten. „Die Bildungsdirektion für Wien wird die Abteilung psychosoziale Unterstützung und schulärztlicher Dienst, Bildungs- und Berufsberatung des BMBFW in die Aufklärung zu den Vorwürfen gegen die Schulpsychologie einbinden“, kündigte die Bildungsdirektion
an.

„Viele offene Fragen“ nach Elternabend

Die Eltern der Schülerinnen und Schüler wurden im Herbst 2019 zu einem Elternabend eingeladen, bei dem neben dem Direktor ein Vertreter der Bildungsdirektion und ein Experte für sexualisierte Gewalt gegen Kinder und Jugendliche anwesend waren. Stimmt das, was eine Jugendliche dazu schriftlich festgehalten hat, sei dabei nicht korrekt informiert worden: „Es wurde gesagt, dass in der Schule nichts passiert ist und uns Kindern nichts passiert ist.“

Allerdings war der Direktor schon Ende Mai vom Wiener Landeskriminalamt informiert worden, dass eine Missbrauchsanzeige eines Schülers gegen den Sportlehrer vorlag, und die Bildungsdirektion erfuhr davon – wohl zeitnahe – auch. Außerdem habe man den Eltern am Elternabend empfohlen, „sie sollen uns Kinder nicht mit Fragen löchern“, schildert die ehemalige Schülerin. Und weiter: „Es waren nach diesem Elternabend so viele Fragen offen, aber es passierte nichts. Es waren dann auch viele bei der Bildungsdirektion, um sich zu beschweren“.

Bildungsdirektion weist „Redeverbot“ zurück

Laut den Angaben jener früheren Schülerin wären einige Eltern damals durchaus bereit gewesen, mit dem Fall an die Öffentlichkeit zu gehen. Dazu sei es aber nicht gekommen. Es habe nämlich „auch Verbote, mit Journalisten zu reden“ gegeben: „Da wurde dann uns Kindern gesagt, wenn ein Journalist zur Schule kommt, darf man nicht mit dem reden.“

Diese Darstellung weist die Bildungsdirektion zurück: „Eltern wurden dazu aufgefordert, mit den Kindern darüber zu sprechen, mit dem Hinweis, dies sehr sensibel zu tun. Weder seitens der Schulpsychologie noch seitens der Bildungsdirektion wurden Pädagoginnen und Pädagogen oder Eltern bzw. Erziehungsberechtigte dazu aufgefordert, etwas zu verschweigen.“

„Psychische Schäden davongetragen“

Aus den Darstellungen der zwei Jugendlichen ergibt sich, dass sie, aber auch andere Klassenkolleginnen und -kollegen sich in ihrem weiteren schulischen Werdegang schwer taten oder sogar die Schule abbrachen. Eine der beiden hält in ihrer Aussage abschließend fest, sie sei zwar „kein körperliches Opfer“, habe aber „psychische Schäden davongetragen“. Sie hätte sich von der Schule, der Bildungsdirektion „oder sonst jemandem erhofft, Hilfe zu erhalten, vor allem in der Form von Psychotherapie (Einzeltherapie). Auf mich ist diesbezüglich nie jemand zugekommen. Ich kann mir selbst Therapie derzeit nicht leisten.“

Was das Thema Entschädigung betrifft, hat laut Bildungsdirektion die Finanzprokuratur bereits in der vergangenen Woche alle Unterlagen der Bildungsdirektion erhalten. Im Bericht der Untersuchungskommission seien rechtliche Änderungen im Entschädigungsrecht angesprochen, „diese können nur durch gesetzliche Anpassungen des Bundes erfolgen“, hieß es gegenüber der APA.

Die Opfer seien vom Landeskriminalamt über ihre Rechte als Opfer aufgeklärt worden: „Sie haben nach derzeitiger Rechtslage die Möglichkeit, eine Sozialentschädigung für Verbrechensopfer bei der Landesstelle des Sozialministeriumservice zu beantragen. Wenn jemand Opfer eines Verbrechens geworden ist, hat die Polizei die Pflicht auf die Opferrechte und die Opferschutzeinrichtungen hinzuweisen.“