Wissenschaft

Chemikalien bedrohen Artenvielfalt

Klimawandel, Artenvielfaltverlust und Verschmutzung durch Chemikalien stürzen die Lebewelt des Planeten in eine „Dreifachkrise“, erklären Wiener Ökologen. Vor allem die chemische Verschmutzung werde zu wenig beachtet.

Die meisten Studien, die sich mit dem globalen Wandel von Ökosystemen und Artenvielfalt beschäftigen, ignorieren chemische Verschmutzung als wichtigen Einflussfaktor, so Gabriel Sigmund vom Zentrum für Mikrobiologie und Umweltsystemwissenschaft der Universität Wien. Zahlreiche hochproblematische Chemikalien würden aber die Vielfalt der Tier- und Pflanzenarten sowie der Mikroorganismen bedrohen. Das sollte sich ändern.

Chemische Verschmutzung zu wenig untersucht

Es gibt fünf Ursachen für den Verlust an Artenvielfalt weltweit, so die Wiener Ökologen in einem Artikel im Fachmagazin „Global Change Biology“: Lebensraumzerstörung (zum Beispiel Abholzungen), übermäßiges Ausbeuten natürlicher Ressourcen (Überfischen), Klimawandel, das Überhandnehmen invasiver Arten und Verschmutzung. Die chemische Verschmutzung wäre nur in wenigen Fällen untersucht worden, etwa bei Überdüngung durch Stickstoff.

Sie sei aber nicht der schwächste „Antreiber“ der Biodiversitätsverluste, sondern als Nummer drei von fünf einzustufen. Von 83.669 Tierarten auf der „Roten Liste“ gefährdeter Arten der Weltnaturschutzunion sind mehr als 11.500 durch Verschmutzung beeinträchtigt, berichteten die Wiener Forscher. In manchen Lebensräumen sind Chemikalien sogar der größte „Stressfaktor“, zum Beispiel Pestizide in den Flussebenen Deutschlands.

Alle Ökosysteme sind durch Chemikalien verschmutzt

Chemikalien wie Metallverbindungen, die zum Beispiel Quecksilber enthalten, Pharmazeutika, Lösungsmittel, giftige, krebsverdächtige Fluorverbindungen, giftige, krebsauslösende Chlorverbindungen, Plastikzusätze und Substanzen unbekannter Zusammensetzung sind in der Umwelt zu finden. Oft seien es Mixturen davon.

Es gebe viele Quellen und kein einziges „unberührtes“ Ökosystem, das von Menschen stammenden Chemikalien frei wäre, so die Forscher. Teils handelt es sich dabei um Substanzen, die sich speziell in der Lebewelt anreichern, und oft sind es die Tiere an der Spitze der Nahrungskette, die am meisten davon abbekommen.

Weitreichende Auswirkungen

Die Effekte sind ebenso vielfach: Die Chemikalien können direkt tödlich sein, Nahrungsnetze verändern, die Reproduktion hemmen, sowie Missbildungen und Verhaltensänderungen verursachen, erklären die Forscher. So sind Antidepressiva nicht nur für Menschen psychoaktiv, sondern machen auch Flussbarsche aktiver, dadurch werden die Fische öfter von Fressfeinden erwischt.

Wenn sich einzelne genetische Varianten wiederum an die Veränderungen durch Chemikalien anpassen, schränkt das die genetische Vielfalt innerhalb der Arten ein, so die Forscher. Schließlich würden manche Chemieprodukte wie das „Unkrautvernichtungsmittel“ Glyphosat auch nachgewiesenermaßen die Mikrobenwelt verändern.

Risikoabschätzungen werden in der Regel nur mit ein paar Spezies durchgeführt, kritisieren die Wissenschafter, und die Auswirkungen der Chemikalien seien viel besser in den Ökosystemen der reichen Länder analysiert, als in den Weltregionen mit niedrigen und mittleren Einkommen. In der Forschung gäbe es Aufholbedarf, herauszufinden, welche komplexen Wirkungen die Chemikalien in der Lebewelt haben, meinen die Experten.

Untersuchungsmethoden haben sich verbessert

In der Vergangenheit sei es teilweise auch schwierig gewesen, die komplexen Zusammenhänge aufzudröseln. Doch neue Methoden machen dies einfacher: Etwa „Umwelt-DNA-Barcoding“, wo man das Erbgut aus Umweltproben analysiert und Organismen identifiziert. Auch die analytische Umweltchemie habe „grundlegende Fortschritte“ gemacht. Und Ökotoxikologen könnten mittlerweile im großen Maßstab die biologischen Effekte von einzelnen Chemikalien und Mixturen bestimmen.

Nicht zuletzt würden Fortschritte in der Computer-Biologie, in den Datenwissenschaften und im Bereich der Künstlichen Intelligenz die Auswertungen erleichtern. „Da sich der Verlust der biologischen Vielfalt in einem beispiellosen Tempo beschleunigt, sollte die wissenschaftliche Gemeinschaft auf diesen besorgniserregenden Trend durch gemeinsame Anstrengungen reagieren, und sich mehr mit der Bedrohungen der biologischen Vielfalt durch chemische Verschmutzung befassen“, betonen die Wiener Forscher

Berücksichtigt man die Verschmutzungs-Effekte zu wenig, würden Artenschutzarbeiten unterminiert. An der Universität Wien wollen sich die Forscher verstärkt der Problematik widmen und zum Beispiel untersuchen, wie Schadstoffe aus Mikroplastik und Nanopartikel die Mikrobenwelt in verschiedenen Umweltsystemen beeinflussen.