Langsame Reform der Kinderheime

Vom Großheim zur Wohngemeinschaft: So könnte man den Reformprozess bei Wiener Kinderheimen kurz zusammenfassen. 1995 wurde jener Prozess gestartet, der die Schließung von Großheimen zur Folge hatte. Seither wird auf Wohngruppen gesetzt.

Schwarze Pädagogik, sozialpädagogische Großheimstrukturen und Erziehungsmaßnahmen aus der Zeit des Nationalsozialismus, die zum Teil noch in den Menschen fortwirkten: Aus diesen drei Elementen setzt sich nach den Worten des Wiener Kinder- und Jugendpsychiaters Ernst Berger die Geschichte der Heime zusammen, in denen in den 1960er und 1970er Jahren Buben und Mädchen aus schwierigen Verhältnissen untergebracht wurden.

Alltag in Heimen erinnert an NS-Zeit

Disziplinierung, körperliche Misshandlung und ein nach außen hin abgeschlossenes Leben waren Teil des Konzepts der Nachkriegszeit. Laut Experten erinnerte der Alltag in so manchen Großheimen noch in den 1950er Jahren an die NS-Zeit - aus der anfangs sogar noch die rechtlichen Grundlagen stammten.

Schloss Wilhelminenberg, Archivaufnahme

ORF

Kinderheim auf dem Wilhelminenberg

Schwarze Pädagogik bedeutet, dass Ordnung anstelle des Kindes im Mittelpunkt steht. Zur Durchsetzung und Aufrechterhaltung dieser Ordnung schreckt diese „Pädagogik“ vor Gewalt nicht nur nicht zurück, sondern setzt sie bewusst ein. Das in diesen Heimen tätige Personal war größtenteils pädagogisch unausgebildet. Psychologen oder Psychiater waren laut Berger nur in „extrem geringer Zahl“ anwesend und standen nicht an Ort und Stelle zur Verfügung, sondern konnten von einer Zentralstelle angefordert werden - von der Heimleitung, nicht von einem Kind. „Kinder in solchen Heimen waren damals völlig entrechtet“, sagte Berger.

Kinder hatten keine Hilfe

Auch Lehrer waren in der Regel keine Ansprechpartner, welche den Zöglingen solcher Institutionen die Möglichkeit zum Aufzeigen von Missständen geboten hätten: Denn die Schulen waren größtenteils innerhalb der Heime angesiedelt oder es waren Sonderschulen, die meist eng mit den Heimen kooperierten. Experten von außen - unter anderem Berger als damals junger Psychiater - bekamen in der Regel nicht die Kinder zu Gesicht, sondern die Heimleitung.

Archivvideo aus Kinderheim am Wilhelminenberg

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Berger räumte ein, keine Vorstellung über das Ausmaß an Gewalt und Sadismus gehabt zu haben, das in den Heimen herrschte. „Uns wurden weitgehend Potemkinsche Dörfer vorgeführt“, sagte der Psychiater, der im Rahmen seiner Tätigkeit für die Opfereinrichtung „Weißer Ring“ vom Ausmaß sexueller Gewalt und persönlichem Sadismus in solchen Kinderheimen erfuhr.

Reformbestrebungen erst sehr spät

Echte Reformüberlegungen wurden erst in den 1960er Jahren angestellt. Maßgebliche Strategien wurden 1962 in der Broschüre „Neue Wege der Sozialpädagogik in Heimen“ dargelegt. 1971 wurde die erste Heimkommission gegründet. Ergebnis: Die betreuten Jugendlichen bekamen Taschengeld, die Ausgangsregelungen wurden gelockert.

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Auch die ersten Familiengruppen wurden in dieser Zeit ins Leben gerufen. Weiters wurde die Anwendung koedukativer Pädagogik und Supervisionsmaßnahmen beschlossen. 1974 wurde schließlich das erste Therapieheim eröffnet. Wenig später wurden die ersten Heime aufgelassen: 1977 wurde etwa jenes im Schloss Wilhelminenberg aufgegeben - wo es zuvor, wie nun bekanntwurde, unter anderem zu Vergewaltigungen von Kindern gekommen sein soll - mehr dazu in wien.ORF.at.

Überfüllung bei Krieg im ehemaligen Jugoslawien

In den 1980er Jahren wurde auch aus organisatorischen Gründen eine weitere Reform nötig. Denn die Zahl der Überstellungen von Kindern in Heimen ging zurück - auf rund 600. In der Folge wurden Plätze reduziert. Doch dann brachte der damalige Jugoslawien-Krieg einen Anstieg auf frühere Werte. So brauchte man 1992 Platz für rund 1.000 Kinder. Die Einrichtungen waren überfüllt, Häuser in Biedermannsdorf, Klosterneuburg und auf der Hohen Warte nahmen auch ganze Flüchtlingsfamilien auf.

Als erste Reaktion auf den Engpass wurde 1993 eine Krisenwohngruppe eröffnet. Zwei Jahre später startete der Reformprozess „Heim 2000“, der überhaupt die Schließung großer Heime zur Folge hatte. Wobei es auch ökonomische Gründe für die Sperren gab, da Großheime auch in der Erhaltung sehr teuer sind. Stattdessen wurden Wohngemeinschaften für bis zu acht Kinder geschaffen. Auch Krisenzentren wurden errichtet. Die Möglichkeit, Kinder bei Krisenpflegeeltern unterzubringen, gibt es seither ebenfalls.

14 Krisenzentren stehen heute zur Verfügung

In Wien gibt es inzwischen, so wird bei der Stadt betont, eine flächendeckende Versorgung mit insgesamt 14 Krisenzentren. Ziel des Jugendamtes ist es, die Kinder in ihrem persönlichen Umfeld - also Kindergarten oder Schule - zu belassen. In Sachen Unterbringung sieht die Situation so aus: Die Hälfte der Wohngemeinschaften wird von der Stadt betrieben, der Rest der Plätze wird bei privaten Trägern zugekauft. Rund 1.500 Kinder leben derzeit in solchen Gemeinschaften.

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