Warum Missbrauchsopfer schwiegen

Egal ob im ehemaligen Kinderheim auf dem Wilhelminenberg oder in der Psychiatrie: Missbrauchsskandale sorgen seit einiger Zeit regelmäßig für Fassungslosigkeit. Viele Opfer sprechen erst jetzt, weil es langsam ein Bewusstsein für diese Thematik gebe, so Experten.

Missbrauchsopfer seien sehr lange Zeit zum Schweigen verdammt gewesen, so Udo Jesionek, Präsident der Opferhilfsorganisation Weißer Ring. Als Opfer hätte man bis vor 20 Jahren keine Chance gehabt: „Es war einfach kein Interesse in der Bevölkerung da, heute sind wir wesentlich empfänglicher für Missbrauch und Gewalt.“

Opferbegriff ist neu

Ein Beispiel von vielen stammt aus dem Jahr 1980. Ein Kamerateam der ORF-Sendung „Teleobjektiv“ machte sich auf den Weg nach Tirol, um die Behandlungspraktiken der Innsbrucker Kinderpsychiaterin Maria Nowak-Vogl zu beleuchten. Viele ihrer Praktiken erschienen schon damals vorsintflutlich und sorgten bei Kritikern für Entsetzen. Öffentlichen Aufschrei gab es aber keinen.

Jesionek: „Den Begriff Opfer gab es zu dieser Zeit noch nicht, der gesamte psychosoziale Aspekt kam nicht vor. Man muss bedenken: Posttraumatische Belastungsstörungen wurden erst in den 1980er Jahren von der WHO als Krankheit anerkannt.“

Täter lange Zeit auf der sicheren Seite

Das damalige Strafrecht unterstützte diese Haltung: „Bis 1975 war es nur ganz bedingt strafbar, wenn ein Mann seine Frau schlägt. Und wenn ein Vater sein Kind geschlagen hat, wurde ihm lediglich Lieblosigkeit vorgeworfen. Sonst nichts“, so Jesionek. Die Täter wären einst total abgesichert gewesen. „Sie mussten sich nicht fürchten, sie waren angesehene normale Bürger“, sagte Jesionek weiter.

Udo Jesionek

ORF

Jesionek: „Kindern wäre nicht geglaubt worden.“

Wäre damals ein Kind aus dem kirchlichen Internat heimgekommen und hätte berichtet, es sei geschlagen oder gar sexuell missbraucht worden, hätte ihm niemand geglaubt. Deswegen haben die meisten geschwiegen, die Vorfälle verdrängt und ihr Leid still zu ertragen versucht.

Der Fachmann Jesionek gesteht heute selbst ein, anfangs auch misstrauisch gewesen zu sein: Dass Leute 30, 40 oder 50 Jahre nach dem Missbrauch noch leiden, war damals noch nicht so vorstellbar. „Die ganze Dynamik war damals niemandem bewusst“, erinnerte sich Jesionek.

Schritt in Öffentlichkeit „keine Schande“

Ein erster wichtiger Schritt sei 1978 gesetzt worden, weshalb seither eine gewisse Aufbruchstimmung eingesetzt habe: im Jänner die Gründung des Weißen Rings und im Dezember die Eröffnung des ersten Frauenhauses. „Für die Opfer war es schon eine Erleichterung zu realisieren, dass sie nicht alleine sind, keine skurrile Ausnahme. Die Leute haben erst begreifen müssen, dass es keine Schande ist, an die Öffentlichkeit zu treten.“ Mehr dazu in Missbrauchsopfer schreiben Bücher.

Josef Hartmann war dann eines der ersten Opfer, die ihr Schweigen brachen. Er hatte 1995 die „Causa Groer“ ins Rollen gebracht - seither wurden zahlreiche institutionalisierte Missbrauchsfälle in Österreich bekannt.

Psychisch Kranke als Freiwild?

Erschwerend kam in der Vergangenheit dazu, dass Opfer oftmals nicht nur nicht erst genommen wurden, sondern auch als psychiatrische Fälle eingestuft wurden.

Trendwende Ende der 50er Jahre

Erst Ende der 1950er beschritt der Wiener Kinderpsychiater und Neurologe Walter Spiel den Weg der psychotherapeutischen Behandlung in der Kinderpsychiatrie. Seine Herangehensweise leitete der Mediziner von der von Alfred Adler begründeten Individualpsychologie ab. Daneben existierten die älteren Strömungen der „Schwarzen Pädagogik“ bis weit hinein in die 1980er Jahre.

Damit hatten sie in der Nachkriegszeit und bis zur Psychiatriereform in den 1980er Jahren mit noch weniger Schutz und Hilfe zu rechnen. Einsperren, schlagen, fesseln, hungern lassen - die Methoden in der Kinderpsychiatrie wurden in Österreich viele Jahre lang aus den Disziplinierungsmaßnahmen der NS-Zeit abgeleitet.

Auch bei Wilhelm J., jenem heute 63-jährigen Mann, der für Versuchszwecke absichtlich mit Malaria infiziert worden sein soll, wurde an der damaligen Klinik Hoff an der Wiener Universitätsklinik Psychopathie diagnostiziert. Aus heutiger Sicht war sowohl die Diagnose, als auch die Zwangstherapie mehr als zweifelhaft - mehr dazu in Weiteres Opfer von Malaria-Versuchen.

Experten: „Opfer zweiter Klasse“

Aber auch heute noch sind die Rahmenbedingungen für Missbrauchsopfer alles andere als rosig. Misshandelte und missbrauchte Kinder würden noch immer „wie Opfer zweiter Klasse“ behandelt, so auch die Kinderschutzorganisation Möwe. Es gebe wenig Lobby für Kinder, noch immer liege über dem Thema Misshandlung und Missbrauch ein „Vorhang des Tabus“, hieß es. Es gebe die Einstellung, die Kinder würden schon darüber hinwegkommen. „Bis du groß bist, ist alles wieder gut“, so die folgenschwere Argumentation.

Expertinnen und Experten fordern seit Jahren eine umfassende physische, psychische und soziale Versorgung für Kinder. Vorgeschlagen wurde in diesem Zusammenhang auch, den Mutter-Kind-Pass über die ersten Lebensjahre zu verlängern.

Therapie als wichtigster Faktor bei Aufarbeitung

Dass in den vergangenen Jahren die Zahl von Missbrauchsmeldungen steigt, bewertete Jesionek jedenfalls grundsätzlich positiv: „Die Opfer können sagen: Endlich glaubt mir jemand. Und viele waren damit schon völlig zufrieden.“

Wenig erfreulich beurteilt Jesionek die Tatsache, dass es in manchen Fällen vorrangig um das Geld gehe: „Das absolut wichtigste ist immer noch, dass diese Menschen Therapie bekommen, gerade weil in Österreich eine große Scheu besteht, zum Therapeuten zu gehen. Eine finanzielle Entschädigung ist okay, aber es geht vor allem darum, mit jemandem über die Ereignisse von damals sprechen zu können. Die meisten, die zu uns kommen, leiden. Und das schon sehr lange.“

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