Schockbericht zu Gewalt in Heimen

Die einstigen Wiener Kinderheime waren ein Ort des Schreckens, heißt es im Endbericht der Historikerkommission. In Erzählungen ehemaliger Heimkinder zeigte sich „lieblose, menschenverachtende und gewaltsame Erziehung“.

Das Gremium unter dem Vorsitz des Zeithistorikers Reinhard Sieder beschäftigte sich mit den Zuständen in den Anstalten. Untersucht wurde der Zeitraum von den 1950er bis in die 1970er Jahre. Untersucht wurden sowohl städtische Einrichtungen als auch andere private und konfessionelle Heime, in die vom Wiener Jugendamt regelmäßig Kinder geschickt wurden.

Vorsitzender: „Katastrophe unglaublichen Ausmaßes“

Damals war in den großen Heimen Gewalt offenbar Alltag: „Es ist eine historische Katastrophe von eigentlich unglaublichen Ausmaßen“, zeigte sich Sieder erschüttert. Die Kommission hatte unter anderem ausführliche Gespräche mit 20 Betroffenen geführt. Dabei seien erstmals die Vielfalt und das Ausmaß der Gewalt zutage getreten, berichtete Sieder.

Die großen Heime seien ab den 1970er Jahren zwar geschlossen worden, eine systematische Aufarbeitung der Verhältnisse habe aber nie stattgefunden: „Es gab keine Forschung dazu.“ Nun sei klar: Zumindest für einen Teil der in den Heimen beschäftigten Erwachsenen sei Gewalt Teil ihrer Erziehungsmethoden gewesen.

Laut dem schockierenden Bericht war das Leben in den Heimen völlig durchorganisiert - mit Zugriff auf alle Tätigkeiten, die im alltäglichen Zusammenleben der „Gruppe“ anfallen: Körperpflege, Mahlzeit, Notdurft, Schlafen, Bettenbauen, Spaziergang, Lernen, Spielen, Schulunterricht, Freizeit.

Kinder durften ab Mittag kein Wasser mehr trinken

„Wie in anderen totalen Institutionen führte die Notwendigkeit, alle Lebenstätigkeiten der Gruppe zu kontrollieren, zu Anordnungen und Geboten, die gar nicht vollständig eingehalten werden konnten“, heißt es in dem Bericht. Übertretungen seien nicht zu vermeiden gewesen: „So führte die strikte Regel, das WC nur in der großen Pause aufzusuchen, bei Kindern, die ihre Körperfunktionen (teilweise infolge diverser Verängstigungen) noch nicht vollständig kontrollieren konnten, zum Hosennässen.“

„Das Verbot, ab mittags Wasser zu trinken, um das nächtliche Bettnässen zu unterbinden, zwang die durstleidenden Kinder, heimlich Wasser zu trinken, und sei es aus der Klomuschel. Das Verbot, bei der gemeinsamen Gruppenmahlzeit oder abends im Schlafsaal zu kommunizieren, erzeugte zwangsläufig heimliches Tuscheln. Das Gebot, das zugeteilte Essen aufzuessen, führte zum verbotenen Erbrechen, das ein neuerliches Gebot, das Erbrochene aufzuessen, nach sich zog. Jeder Regelverstoß wurde, sofern er von einem Erzieher bzw. einer Erzieherin beobachtet wurde, umgehend bestraft. Die Strafe richtete sich auf die Gruppe oder auf den Einzelnen, der vor den Augen der Gruppe bestraft wurde.“

Fälle sind alle verjährt

Die Fälle sind laut Sieder alle verjährt. Auch finden sich keine Namen mutmaßlicher Täter in dem Bericht, berichtete der Leiter der Kommission, die 2010 ihre Arbeit aufgenommen hatte. Seit damals gibt es für Opfer auch die Möglichkeit, finanzielle Unterstützung bzw. therapeutische Hilfe zu erhalten. Inzwischen haben sich laut Jugendstadtrat Christian Oxonitsch (SPÖ) bei der Stadt 1.105 Personen gemeldet, die über Gewalterfahrungen in den einstigen Wiener Kinderheimen berichteten.

Klar ist nun auch: In so gut wie allen diesen Fällen fand tatsächlich körperliche und psychische Gewalt statt. Fast die Hälfte der Betroffenen musste auch sexualisierte Gewalt erleiden, hieß es heute. Insgesamt wurden seither 769 Fälle in den Gremiumssitzungen der Opferschutzorganisation Weißer Ring behandelt.

Entschädigungen für 550 Menschen

Für 550 Personen wurden finanzielle Unterstützungen beschlossen und für 396 Psychotherapie bewilligt. Zuerkannt wurden bisher 17,1 Millionen Euro. „Es sind unfassbare, es sind erschütternde Geschichten, die man hier lesen kann“, kommentierte Oxonitsch den mehr als 500 Seiten starken Bericht. Den Opfern sei es wichtig gewesen, dass man ihre Erzählungen höre und ihnen Glauben schenke. Erlittenes Leid könne man nicht wiedergutmachen, man könne aber versuchen, zumindest ein Zeichen zu setzen, so der Stadtrat.

Grausame Strafen

So gut wie jede Strafe enthielt demnach physische und psychische Gewalt. In einigen Fällen verband sich das Strafen überdies mit sexualisierter Gewalt. Das Repertoire umfasste unter anderem:

  • die Zufügung von physischen und psychischen Schmerzen, darunter das mehrmalige Eintauchen des Kopfes in die Klomuschel, das Zerschlagen des Gesichts, das Hinunterstoßen über Treppen, das Verrenken eines Unterarmes, das Würgen mittels eines um den Hals gelegten nassen Handtuchs
  • die schwere Verprügelung mit Reitgerten, ledernen Hosengürteln, Ochsenziemern, Linealen und Holzschlapfen
  • die Duldung oder Provozierung einer Art Selbstjustiz in den Kinder- und Jugendgruppen sowie die Disziplinierung, tlw. auch Quälung und Misshandlung, von jüngeren oder körperlich schwächeren Kindern durch stärkere Kinder und Jugendliche
  • psychische Gewalt, darunter das systematische Verächtlichmachen, Herabwürdigen, Sarkasmus und Zynismus, in einzelnen Fällen die Zufügung von Todesängsten
  • soziale Gewalt, etwa die Einschränkung der Kommunikation im Schlafsaal oder bei Tisch (Redeverbot), die Einschränkung von Besuchen, die oft willkürliche Untersagung von Ausgängen zu Eltern und Verwandten
  • materielle Gewalt, wie die Ausbeutung der Arbeitskraft der Kinder und Jugendlichen im Anstaltshaushalt, die Einbehaltung von persönlichem Eigentum von Heimkindern durch Erzieher
  • sexualisierte Gewalt, die vorgeblich in erzieherischer Absicht durch weltliche und geistliche Erzieher ausgeübt wurde. Darunter das Antretenlassen der Buben, um den Penis „zu prüfen“, und die Inspektion von Vagina und After bei Mädchen bzw. Schläge auf die Vagina mit einem Besenstiel (im Heim der Kreuzschwestern in Laxenburg)
  • Esszwang, also der mit Drohungen einhergehende Zwang, das oft nicht kindgerechte (zu fette) Essen zur Gänze aufessen und in der Folge mehrfach Erbrochenes neuerlich aufessen zu müssen

Sexuelle Gewalt von Erziehern und Hauspersonal

Sexuelle Gewalt gab es laut dem Bericht auch - es sei jedoch nicht möglich gewesen, sie als erzieherische Maßnahme zu tarnen. Derartige Vorfälle wurden aus Heimen wie Eggenburg, Hohe Warte, Wilhelminenberg, Pötzleinsdorf, Wimmersdorf, Pitten und Laxenburg berichtet. Die Täter waren nicht nur Erzieher, sondern auch anderes Hauspersonal. Die Formen sexueller Gewalt reichten vom Zwang zur oralen oder manuellen Befriedigung des Täters beziehungsweise der Täterin bis zum erzwungenen Koitus.

Häufiger als von Erziehern wurde sexuelle Gewalt von stärkeren Kindern an Mitzöglingen ausgeübt. Das wurde von einigen Erziehern beobachtet beziehungsweise geduldet.

Wilhelminenberg und Eggenburg am meisten genannt

Die meisten Meldungen entfallen auf die ehemaligen Heime Wilhelminenberg (132), Eggenburg (91), Hohe Warte (86), Hütteldorf (64), die Wiener Kinderübernahmestelle (64) und Biedermannsdorf (59). Mit dem ehemaligen Heim im Schloss Wilhelminenberg beschäftigt sich auch eine eigene Kommission. In der Anstalt sollen sogar Fälle von Kinderprostitution vorgekommen sein.

Erst vor wenigen Tagen hatte diese Kommission eine Zwischenbilanz gezogen. In Interviews mit Heimkindern und Erziehern wird von „brutaler Gewalt, sexuellem Missbrauch und systematischer Demütigung“ berichtet - mehr dazu in Heimkinder bestätigen „Missbrauch“.

Großheime wurden schließlich geschlossen

Mit dem Bericht, so wird versichert, würden nun erstmals die konkret praktizierten Formen der Gewalt in ihrer Vielfalt und in den unterschiedlichen Auswirkungen dokumentiert. Eine derart systematische Sammlung bzw. empirische Untersuchung habe es bisher nicht gegeben - obwohl das System der Wiener Kinderheime schon ab den 1970er Jahren infrage gestellt wurde. Erst spät wurden die Großheime schließlich geschlossen und Reformen eingeleitet - mehr dazu in Langsame Reform der Kinderheime.