Uni Wien findet verlorene Sprachen

Weil im Mittelalter Pergament ein teures und rares Gut war, wurde es mehrmals verwendet. Wiener Forschern gelingt es nun mit moderner Technik, überschriebene Texte wieder sichtbar zu machen und so sogar ausgestorbene Sprachen zu entdecken.

Häufig nutzten Gelehrte wegen der Kosten ihre Pergamentbestände gleich mehrmals: Mit Klingen kratzten sie die oberste Schicht der Tierhaut ab oder wuschen die Tinte ab und beschrieben das Pergament erneut. Wissenschafter der Uni Wien untersuchen den größten Bestand solcher Handschriften, die auch Palimpseste genannt werden.

Dieser Bestand befindet sich im Katharinenkloster am ägyptischen Sinai, wo Forscher um Claudia Rapp, stellvertretende Leiterin des Instituts für Byzantinistik und Neogräzistik der Universität Wien, die Untersuchungen durchführen. Von Freitag bis Sonntag werden in Wien bei einem Workshop erste Forschungsergebnisse des „Sinai Palimpsest Projects“ präsentiert.

„Neue Erkenntnisse zu alten Sprachen“

„Wir erwarten uns neue Erkenntnisse zu alten oder bisher unbekannten Sprachen, neue Texte, aber auch neue Arten von Handschriftenstilen“, erklärte Rapp. Bereits Anfang der 2000er Jahre fand der georgische Forscher Zaza Alexidze, ein Mitglied des Projektteams, in den ausradierten Texten das Alphabet des Kaukasischen Albanisch, einer Sprache, deren Existenz zwar seit dem Zweiten Weltkrieg vermutet wurde, die bis dahin aber nur aus Inschriften und indirekten Quellen bekannt war.

Einige Funde gibt es auch zum christlich-palästinensischen Aramäisch, dessen besondere Schrift seit dem 12. Jahrhundert kaum mehr benutzt wurde. „Diese Entdeckungen erweitern natürlich das linguistische Material, an dem die Sprache studiert werden kann, enorm“, meinte Rapp, die auch Leiterin der Abteilung Byzanzforschung am Institut für Mittelalterforschung der Österreichischen Akademie der Wissenschaften ist. Auch ein bisher unbekannter Hymnus auf den Heiligen Nikolaus auf Griechisch und ein medizinisches Traktat sind unter den wiederentdeckten Texten.

„Auch ein bisschen sozialhistorischer Alltag“

Überschrieben wurden die Handschriften im Laufe der Zeit vor allem mit liturgischen Texten oder Hagiographien, also Lebensgeschichten von Heiligen. „Die Texte der oberen Schichten sind nichts Spektakuläres, die Handschriften wurden zum täglichen Gebrauch erstellt und spiegeln so auch ein bisschen sozialhistorischen Alltag.“

System oder Absicht kann Rapp in den Auslöschungen beim derzeitigen Stand der Forschungen aber nicht erkennen. „Vielleicht handelte es sich um ‚freundliche Vernachlässigung‘ von altem Material, vielleicht kam aber auch einfach eine Neuausgabe, und der alte Text wurde nicht mehr gebraucht“, meinte sie.

Seiten werden unterschiedlich beleuchtet

Um diese Schätze zu heben, braucht es auf jeden Fall modernste Technik. Ein Team von US-Wissenschaftlern verfeinert für dieses Projekt die Methoden der Aufnahmetechnik und der digitalen Nachbearbeitung. Im ersten Schritt muss der gegenwärtige Handschriftenbestand analysiert und die Reihenfolge der einzelnen Blätter festgestellt werden. „Anschließend wird jede Seite 31-mal mit verschiedenen Wellenlängen von Licht und unterschiedlichen Einstrahlungsvarianten aufgenommen“, erklärte Rapp.

Diese Aufnahmen werden am Computer bearbeitet, um die darunter liegenden Texte besser sichtbar zu machen. Im nächsten Schritt beginnt die Detektivarbeit: „Anhand der Aufnahmen werden die Texte und ihre paläographischen Eigenheiten identifiziert“, so die Expertin weiter. Am Ende des Projekts soll schließlich eine Open-Access-Datenbank entstehen, in die neben den Digitalaufnahmen auch eine kurze Katalogbeschreibung eingespeist wird.

„Wir rechnen noch mit weiteren Funden“

Seit mehr als zwei Jahren läuft dieses Projekt auf Einladung des Katharinenklosters. „Es ist das erste Mal, dass palimpsestierte Handschriften in so großer Anzahl gefunden wurden und untersucht werden können“, so Rapp.

In der Österreichischen Nationalbibliothek finden sich 23 Palimpseste, die Forscher um Rapp arbeiten mit der fünffachen Menge. „Wir rechnen noch mit weiteren Funden“, meinte Rapp. Interessant sind daher nicht nur die überschriebenen und damit verloren gegangenen Texte, sondern auch die Art der Palimpsestierung selbst. Teils wurde nicht nur das Geschriebene abgewaschen oder abgeschabt, sondern auch die Formatierung der Pergamente geändert. Aus einer großen Handschrift entstanden dann zwei kleine.

Das Katharinenkloster wurde im 6. Jahrhundert gegründet und ist das älteste immer noch bewohnte Kloster des Christentums. Eine Besonderheit seiner Sammlung ist damit auch die Beständigkeit: „Die Palimpseste sind über Jahrhunderte an diesem Ort verblieben, zum Teil wurden sie auch im Kloster selbst angefertigt“, erklärt Rapp. Der Rest kam wahrscheinlich als Ankäufe oder Geschenke in das ägyptische Kloster; ob es selbst eine Schreibwerkstatt besessen hat, ist noch strittig.

Link: