Wie gefährlich ist Favoriten?

Welcher ist Wiens gefährlichster Bezirk? Geht es nach der Zahl der Polizeiberichte und dem Sicherheitsgefühl der Bewohner, dann eindeutig Favoriten. Aus keinem anderen Bezirk meldet die Polizei häufiger Straftaten an die Medien. Spiegelt das die Realität wider?

2,33 - mit dieser Schulnote bewerten die Favoritner ihr Sicherheitsgefühl bei einer Befragung des Instituts für empirische Sozialforschung (IFES) 2013. Das ist zwar eine gute Note, aber gleichzeitig die schlechteste Wiens. Am sichersten fühlen sich demnach die Bewohner der Josefstadt (Note 1,65) und der Wieden (Note 1,78).

Stadtplan Wien - Favoriten

CC 3.0/TomGonzales

Favoriten ist Wiens bevölkerungsreichster Bezirk

Auch in der Kriminalitätsberichterstattung der Wiener Polizei bekam 2013 kein Bezirk so viel Platz wie der Arbeiterbezirk Favoriten: Hier gab es mehr als doppelt so viele Presseaussendungen über Vorfälle wie zu den meisten anderen Bezirken. Die wenigsten Aussendungen entfielen auf die wohlhabenden Bezirke Wieden, Hietzing, Döbling und Währing, zeigt eine Datenanalyse - mehr dazu in Die Delikte, von denen man kaum hört (news.ORF.at).

Innere Stadt: Höchste Kriminalität pro Kopf

Das scheinbar „gefährliche“ Favoriten ist jedoch der Bezirk mit den meisten Einwohnern. Logischerweise passiert hier häufiger etwas als in einem kleinen Bezirk, Favoriten verzeichnete 2013 die meisten Anzeigen Wiens. Pro Kopf gesehen lag der Bezirk bei der Kriminalität jedoch absolut im Mittelfeld: Auf 1.000 Einwohner kamen 98 Anzeigen, im Wien-Schnitt waren es 103. Der gefährlichste Bezirk war demnach mit Abstand der erste, mit 843 Anzeigen pro 1.000 Einwohnern. Das liegt natürlich auch daran, dass hier wenige Menschen wohnen und es viele Lokale und Geschäfte gibt.

Aber selbst wenn man berücksichtigt, dass es in Favoriten die meisten Anzeigen gab, kam der Bezirk in den Polizeiaussendungen häufiger vor als die meisten anderen. Ein Vorfall in Favoriten schaffte es 2013 zum Beispiel mit fast zweieinhalbmal höherer Wahrscheinlichkeit in eine Aussendung als einer im Villenbezirk Döbling.

Grafik Bezirke

ORF.at

Grafik: ORF.at; Quelle: CORRECT!V; Daten: Presseaussendungen der Wiener Polizei 2013 (bereinigt - siehe Werkstattbericht), Sicherheitsbericht 2013 (BM.I)

„No-go-Areas“ durch Verzerrungen

Es sei Zufall, wie oft über einen Bezirk berichtet werde, sagt dazu der oberste Polizeisprecher Wiens, Johann Golob, der die zentrale Pressestelle der Wiener Polizei leitet. Eine Quote gebe es nicht und wäre auch nicht umsetzbar.

Grafikvorschau Bezirke

CORRECT!V

Grafik: Das Sicherheitsgefühl, die Zahl der Polizeiaussendungen (bereingt) und die Anzeigen pro 1.000 Einwohner in den Bezirken im Vergleich. Klick öffnet ein externes Fenster.

Wenn über manche Bezirke besonders oft berichtet wird, würden aber mitunter „No-go-Areas“ geschaffen, erklärt der Kriminalsoziologe Reinhard Kreissl, Leiter des Wiener Zentrums für sozialwissenschaftliche Sicherheitsforschung (VICESSE). Die IFES-Befragung über das Sicherheitsgefühl unterstreicht das: Es fühlen sich just die Bewohner jener Bezirke am sichersten, zu denen es die wenigsten Polizeiaussendungen gab - und umgekehrt, wenngleich Ausnahmen existieren.

Sicherheit heißt Lebenszufriedenheit

Auch eine Sonderauswertung der IFES-Befragung durch das Institut für Rechts- und Kriminalsoziologie (IRKS), das Kreissl bis vor Kurzem leitete, zeigt: Die gefühlte Sicherheit hat nicht unbedingt etwas damit zu tun, wie gefährlich die eigene Wohngegend wirklich ist. So fühlen sich die Bewohner der Bezirke Leopoldstadt, Margareten und Alsergrund überdurchschnittlich sicher, obwohl sie laut der Befragung häufiger von Kriminalität betroffen sind. Umgekehrt fühlt man sich in Favoriten und in der Brigittenau überdurchschnittlich unsicher, obwohl das Kriminalitätsrisiko unter dem Wien-Schnitt liegt.

„Sicherheit heißt für die Leute vor allem: Die Wohnung muss sicher sein, der Job, die Beziehung und das soziale Netzwerk“, begründet Kreissl. Dort, wo die Angst vor Kriminalität am höchsten ist, in Favoriten und Brigittenau, ist auch das Pro-Kopf-Einkommen besonders niedrig. Auch das Ansehen der Wohngegend ist wichtig: Das ist in Favoriten und der Brigittenau sehr niedrig, in der Leopoldstadt und in Alsergrund hingegen sehr hoch und „kaschiert“ quasi das höhere Kriminalitätsrisiko, wie das IRKS analysiert.

Hohe Unsicherheit bei Hausfrauen und Pensionisten

„Kriminalitätsfurcht-Paradoxon“ - so nennt man in der Kriminalsoziologie das Phänomen, dass die Angst vor Kriminalität oft bei jenen besonders hoch ist, die seltener betroffen sind - zum Beispiel bei Hausfrauen und -männern und Pensionistinnen und Pensionisten, wie auch die IFES-Befragung für Wien zeigt. Wiener mit wenig Einkommen fühlen sich ebenfalls besonders unsicher, Gutverdiener hingegen sicherer als der Durchschnitt - die Kriminalitätsbetroffenheit ist jedoch in beiden Gruppen gleich groß.

„Mehr Feedback zu Sicherheit im Grätzel“

Kriminalsoziologe Kreissl findet: „Die Polizei sollte versuchen, den Leuten auf Grätzelebene mehr Feedback zu geben, wie es um die Sicherheit in ihrem Stadtviertel bestellt ist.“ Er plädiert für Vierteljahresberichte über die Ereignisse im Grätzel - von gestohlenen Geldtaschen über Informationsveranstaltungen bis zur Einbruchserie. „Das muss nicht Kriminalität sein. Die Polizei hat mit vielen anderen Dingen zu tun als mit Kriminalität“, sagt Kreissl.

Diese Berichte hätten die Funktion von „Realitätschecks“ gegenüber der tagesaktuellen Kriminalitätsberichterstattung - von der er aber grundsätzlich wenig hält: „Tagesaktuell über Kriminalität zu berichten befördert einfach nur den Voyeurismus, den Schauder aus zweiter Hand. Das braucht es nicht.“

Evelyn Kanya und Alexandra Siebenhofer, wien.ORF.at

Die Recherche für diesen Artikel wurde durch ein Fellowship des Recherchezentrums CORRECT!V und der Rudolf-Augstein-Stiftung ermöglicht. Die Ergebnisse werden auch in der Wiener Wochenzeitung „Falter“ veröffentlicht.

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