Ohrenschmaus - der andere Literaturpreis

Viel ist dieser Tage von Integrationsbemühungen die Rede und von Übersetzungsleistungen. Aber manche gehen weiter: Es sind Wandler zwischen den Welten, die beim Literaturpreis Ohrenschmaus ausgezeichnet werden.

Auf Augenhöhe erzählen Menschen mit Lernschwierigkeiten aus ihrem Leben - und auf Augenhöhe werden ihre Kurzgeschichten und Gedichte rezipiert. Drei Hauptpreise wurden am Dienstagabend in Wien verliehen - an Menschen mit Lernschwierigkeiten, die früher geistig Behinderte genannt wurden. Einer der Preise ging an Martin Hiltner für seinen Text „Was mir durch den Kopf geht und ich mit Hilfe aufschreiben möchte“. Der Text zeichnet sich durch eine außergewöhnliche Klarheit aus. Knapp und konzentriert, zusammenfassend, komprimierend - all das sind Eigenschaften, mit denen stilistisch für gewöhnlich gehetzte Kurzatmigkeit einhergeht.

Die „fremde Schreibtischfrau“

Hiltner jedoch ist das Kunststück gelungen, auf nicht einmal zwei A4-Seiten sein Leben zusammenzufassen, in aller Ruhe, ohne dabei seine Verletzlichkeit und gleichzeitig seine Glücksfähigkeit preiszugeben. Erzählerische Dichte und unaufdringliche Emotionen dominieren, wenn Hiltner Revue passieren lässt, wie die Gesellschaft mit ihm als „Behinderten“ umgeht. Hiltner singt gerne und viel, und bei den Gebeten in der Kirche ist er schneller als der Pfarrer:

„Ich bin immer der erste mit dem Amen. Dann schmunzeln die Leute. Aber für mich ist das so richtig. Es ist mir wichtig, zu zeigen, dass ich mir wichtige Sachen auswendig merke. Eine fremde Schreibtischfrau entschied vor 50 Jahren, dass ich nicht einmal die Sonderschule besuchen durfte, sondern ich kam in eine Tageseinrichtung. Dabei lerne ich so gerne und kann viel.“

Die hochgezogene Augenbraue der Schwester

Hiltner wurde als Sohn eines Ärzteehepaars in der DDR geboren und wuchs in einer liebevollen Umgebung auf. Später folgte eine Karriere, die ihn von betreuter Werkstätte zu betreuter Werkstätte führte. Bis zu tausend Stück baute er pro Tag zusammen, seien es „zusammengesteckte Kleiderbügel oder Wasserflaschenstöpsel“. Hiltner hatte beim Arbeiten ein Höllentempo drauf. Darauf ist er noch heute stolz.

Gewinner

Ingrid Fankhauser

Martin Hiltner

Mittlerweile ist sein Vater verstorben und seine Mutter erblindet. Hintner lebt unter der Woche in einer betreuten Einrichtung, am Wochenende aber ist er bei seinen Geschwistern: „Jede Woche sehe ich auch meinen jüngeren Bruder. Sein großes Auto scheppert von der lauten Musik darin. Wir fahren zu Terminen oder zu ihm nach Hause, wo drei Menschen und drei Hunde leben. Manchmal sage ich aus Versehen zu ihm Papa, weil er jetzt aussieht wie mein Papa früher. Auch zu meiner Schwester sage ich manchmal Mama, denn oft erinnere ich mich besser an früher. Die Schwester zieht dann eine Augenbraue hoch und schaut in den Spiegel.“

„Ollwei dössöbi“

Ein veritabler Sprachkünstler ist auch Peter Gstöttmaier. Er wurde als solcher bereits letztes Jahr mit einem Ohrenschmaus-Hauptpreis bedacht. Heuer wurde sein kurzes, sprachmächtiges Gedicht „dössöbi“ prämiert:

"mama
sogt ollwei
dössöbi

jedn tog
ruaf ih on

mama
sogt ollwei
dössöbi

und
ollwei ruaf
ih sie wieda on"

Gewinner

Ingrid Fankhauser

Peter Gstöttmaier

Träume von Männern, von Reisen, Meer und Disco

Der dritte Hauptpreis ging heuer an Silvia Hochmüller, die abstrakten Begriffen wie Seele und Freude ganz konkretes Leben einhaucht. Zum Thema „ich bin nicht glücklich“ schreibt sie über ihre Träume:

„Von Männern träume ich schon, aber nicht von schönen Kleidern und schminken. Ich träume von schönen Reisen, dass ich mit dem Hubschrauber, mit dem Ballon und mit den Vögeln geflogen bin. Ich möchte weit weg reisen. Auf eine andere Weltkugel, ins Universum. Wasser, Meer soll dort sein. Eine Insel und Bäume müssen auch dabei sein. Urlaub machen, Disco machen, Auszeit machen.“

Gewinner

Ingrid Fankhauser

Silvia Hochmüller

Das geschmolzene Mädchen

Johanna Maria Otts athmosphärisch dichtes Poem „See“ wurde als Text für die Ohrenschmaus-Schokolade von Zotter ausgewählt:

„Der See ist klar, man kann den Mond sehen, Frauen, Mädchen schwimmen im sommerlichen Wasser.
Die Männer und Jungen sehen ihre verschwommenen Bewegungen.
Da kam ein wunderschönes Mädchen aus dem Wasser. Johanna war ihr Name, und sie legte sich neben einen Jungen und er streichelte sie am Rücken und am Kopf und sie schmolz.“

Beeindruckend sind auch die Texte jener Schriftsteller, die es auf die „Ehrenliste“ des Ohrenschmaus-Preises geschafft haben: Karin Brenner und Manuela Gruber, Julia Jirak, Christian Kargl, Ruth Oberhuber, Herbert Schinko und Klaus Willner.

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