Schwester erstochen: Problematischer Ehrbegriff

„Der Wert der Familie misst sich an der Sittsamkeit der Frauen und an der Wehrfähigkeit der Männer.“ Das sagte der Soziologe Kenan Güngör, nachdem ein 18-Jähriger in Wien seine 14-jährige Schwester getötet hat.

Aufgabe der Männer sei es, die schwächeren Familienmitglieder zu beschützen, betonte der Experte. Traditionell wird dem Soziologen zufolge Ehre sehr stark über die Sexualität und Keuschheit von weiblichen Familienmitglieder definiert. In Zusammenhang mit der Bluttat von Montag steht ein sogenannter Ehrenmord im Raum - mehr dazu in Schwester erstochen: 18-Jähriger amtsbekannt und in Erstochene 14-Jährige wohnte in Krisenzentrum.

Ehrenmord innerhalb der Familie gelobt

Güngör erklärte, es gebe zwei Stufen von Schande. Auf der ersten Stufe wird die Familie „befleckt“. Das passiert zum Beispiel, wenn die „Frau aus der Wohnung ausbricht, sich nicht sittsam verhält oder angesprochen wird“. Eine Stufe schlimmer sei, wenn die Schande nicht gerächt wird. „Die kollektive Schmach wird verdoppelt, wenn ich das nicht vergelte“, erklärte er. Der Gruppendruck sei sehr groß.

Wichtig sei ihm zu betonen, dass es auch genug andere Mordfälle gebe, ohne dass Ehre im Spiel sei. Der Unterschied ist laut dem Soziologen: „Während es zum Beispiel bei Eifersuchtsfällen gesellschaftlich geächtet wird, wird ein Ehrenmord kollektiv (innerhalb der Familie, Anm.) gelobt.“ In einer strengen Kultur werde der Mann sogar dazu genötigt zurückzuschlagen. „Der kollektive Druck macht die Menschen konservativer, als sie eigentlich sind.“

„Revival“ des Ehrbegriffs

Ehrenmorde seien außerdem nur die Spitze des Eisberges. Ein strenger Ehrbegriff bringe auch psychische und physische Gewalt in der Familie hervor. Gegenwärtig sieht Güngör ein „Revival“ des traditionellen Ehrbegriffs. Konservative Lebensentwürfe nehmen wieder zu. Dann steige der soziale und kollektive Druck und die darauf folgende Gewalt. Er sagte: „Wir dürfen erwarten, dass erwachsene Menschen in Österreich einen Lernprozess durchmachen. Wir müssen das in der Gesellschaft bewusster und empathischer vermitteln.“

Der Ehrbegriff und dieses Grundprinzip sei weltweit der gleiche und unabhängig von Religion und Herkunft. Unterschiede sieht der Experte darin, wie dominant und wichtig der Ehrbegriff ist. „Für einige spielt das überhaupt keine Rolle. Einige gehen flexibel damit um. Dann gibt es noch sehr traditionelle Familien, die konservativ handeln“, sagte er.

Im letzten Jahrhundert habe sich der Ehrbegriff in Mitteleuropa sehr verändert. „Das ist alles nicht lange her und es war ein mühsamer Kampf.“

120 Jugendliche in Krisenzentren

Das getötete 14-jährige Mädchen befand sich in den letzten Wochen in einem Krisenzentrum. Dort hätten die Mitarbeiterinnen jedoch keine Gefährdung mitbekommen, sagte Sozialpädagoge Peter Sarto im „Wien heute“-Interview: „Sie wollte das Krisenzentrum verlassen und leben, wie jede andere Jugendliche. Die Sozialpädagoginnen vor Ort haben nicht gesehen, dass das Mädchen Angst hätte.“

In den Krisenzentren werden derzeit 120 Kinder und Jugendliche betreut. Insgesamt zwölf regionale Stellen mit je acht Plätzen für Kinder von drei bis 15 Jahren stehen in der Bundeshauptstadt zur Verfügung, erläuterte MA11-Sprecherin Petra Mandl am Dienstag im Gespräch mit der APA. Dazu kommen vier Krisengruppen für Jugendliche - je zwei für Mädchen und Burschen - mit insgesamt 36 Plätzen.

Individuelle Betreuung für jedes Kind

Kinder im Alter zwischen drei und 15 Jahren können sich - wenn nötig - bis zu sechs Wochen in den Krisenzentren aufhalten. Kleinkinder unter zwei Jahren werden in Krisenpflegefamilien untergebracht. Bei Geschwistern wird in der Regel ein gemeinsamer Aufenthalt angestrebt, informiert die Stadt Wien auf ihrer Internetseite. Ist eine Rückkehr in die Familie nicht möglich, wird eine längerfristige Unterbringung angestrebt - beispielsweise in einer Wohngemeinschaft, bei Pflegeeltern oder in einer anderen sozialpädagogischen Einrichtung.

Jedes Kind werde individuell betreut, betonte Mandl. Der überwiegende Teil der Fälle betrifft demnach Vernachlässigungen in der Familie. Mit der Betreuung in Krisenzentren gibt es „ein gutes System in Wien“, hielt die Sprecherin fest. Als Sozialarbeiterin sei sie jedoch „nie zufrieden“.

„Rat auf Draht“ für Erwachsene

Ähnlich sieht das Monika Pinterits, Kinder- und Jugendanwältin der Bundeshauptstadt. Wien sei das einzige Bundesland, das Krisenzentren zur Verfügung hat, wo sich Jugendliche in Not selbst aufnehmen lassen können oder von der Jugendwohlfahrt dort hingebracht werden, sagte sie. Das sei prinzipiell sehr positiv und eine wichtige unbürokratische Hilfe. Die Mitarbeiter in den Krisenzentren sind laut Pinterits „sehr gut ausgebildet“. Für sie stelle sich aber die „Frage, ob ein Krisenzentrum das gelindeste Mittel ist, oder ob es andere Präventionsmaßnahmen gibt“.

„Es ist eine schwierige Zeit im Moment“, sagte die Expertin allgemein zur Betreuung von Kinder- und Jugendlichen. Oft spiele die Wohnsituation eine Rolle bei familiären Problemen, Wohnungen würden immer teurer. „Da ist eine gute Sozialpolitik gefragt, das zu ändern“, betonte Pinterits. „Die Gesellschaft hat sich verändert, Ressourcen werden immer knapper.“ Das führe unweigerlich zu Konflikten in der Familie, wenn man beispielsweise Miete oder Essen nicht zahlen kann. Außerdem wünschte sich Pinterits ein Nottelefon - eine Art „Rat auf Draht“ für Erwachsene. „Weil auch das ist Kinder-und Jugendschutz“, sagte sie.