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ORF.at/Christian Öser
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Politik

Streit Bund-Wien um Wohnsitzauflage

Angesichts des hohen Familiennachzugs geht der Streit um die von Wien geforderte Wohnsitzauflage für Asylberechtigte weiter. Die ÖVP lehnt diese ab. Neben dem politischen Hickhack geht es auch um rechtliche Grundlagen und Integrationspolitik.

Die ÖVP habe in Regierungsverantwortung ihren Beitrag geleistet, um die Zahl der Asylanträge zu senken, jetzt sei es „Aufgabe von Wien das Sozialsystem so herzurichten, dass nicht die Menschen wegen der Sozialleistungen nach Wien kommen, sondern wegen der Arbeitsplätze“, sagte ÖVP-Generalsekretär Christian Stocker. Wenn man mehr zahle als alle anderen Bundesländer, dürfe man sich nicht wundern, dass mehr Menschen nach Wien kommen würden.

Ziel müsse es sein, die Menschen dorthin zu bringen, wo sie Arbeit haben und nicht dorthin, wo sie am meisten Sozialhilfe bekommen, so Stocker. Zum Vorschlag von AMS-Chef Johannes Kopf, wonach anerkannte Flüchtlinge nur in dem Bundesland Sozialhilfe beziehen dürften, wo ihr Asylverfahren stattgefunden hat, sieht sich die ÖVP als Regierungspartei nicht angesprochen. Dabei gehe es nicht um eine Bundesregelung, sondern um eine 15a-Vereinbarung zwischen den Ländern, sagte Stocker. Alles auf die Bundesebene zu heben, weil man die eigenen Hausaufgaben nicht gemacht habe, sei zu kurz gegriffen.

Bund und Wien streiten um Wohnsitzauflage

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Doch Wiens Bürgermeister Michael Ludwig (SPÖ) sieht den Ball weiter beim Bund: „Wir drängen ja schon die längste Zeit auf eine gerechte Verteilung. Man hat manchmal den Eindruck, es gibt durchaus den gewünschten Effekt, in Wien Probleme zu verursachen, denn sonst kann man sich ja nicht erklären, dass vonseiten des Bundes hier keine großen Aktivitäten gesetzt werden außer in der parteipolitischen Diskussion.“

Stadtregierung will drei Jahre Wohnsitzauflage

Angesichts des verstärkten Familiennachzugs fordert die Stadt eine Wohnsitzauflage für anerkannte Flüchtlinge. Nicht berufstätige Asylberechtigte sollen demnach drei Jahre in jenem Bundesland bleiben müssen, in dem ihr Asylverfahren gelaufen sei. Davon werde man auch nicht abgehen, betonte Wiens Vizebürgermeister Christoph Wiederkehr (NEOS). Er sei zufrieden, dass über den Plan diskutiert werde und man „immer mehr Unterstützung“ erhalte, verwies er auf AMS-Chef Kopf. Wien sei aktuell sehr gefordert.

Alleine im März seien durch Familiennachzug 350 Kinder in den Schulen aufgenommen worden, sagte Wiederkehr. Die Aussagen der ÖVP seien „befremdlich“. Hier allein auf Wien zu zeigen und zu sagen, Wien sei selber Schuld, sei ein „unanständiges Taktieren“. Wichtig seien einheitliche Sozialstandards mit ausreichend Unterstützung, damit Integration gelingen könne. „Es kann nicht das Ziel sein, dass alle so weit nach unten gehen, dass die Menschen obdachlos und kriminell werden.“

Analyse von ORF-Wien-Chefredakteur Oliver Ortner

Wohnsitzauflage: Politische Debatte und rechtliche Bedenken

Angesichts des verstärkten Familiennachzugs von Asylberechtigten geht der Streit um die von Wien geforderte Wohnsitzauflage für Asylberechtigte weiter. Die ÖVP lehnte die Forderung erneut ab. Die rot-pinke Stadtregierung warf der Bundesregierung erneut vor, Wien im Stich zu lassen.

SPÖ sieht „Verhöhnung“

Die SPÖ warf der ÖVP und dem von ihr geführten Innenministerium vor, Wien mit dem Familiennachzug seit Monaten im Stich zu lassen. „Jeder Antrag auf Familiennachzug wird durch das schwarze Innenministerium bestätigt, trotzdem wurde Wien immer über die Nachzugszahlen im Dunkeln gelassen“, so Integrationssprecher Christian Oxonitsch (SPÖ). Das sei eine „Verhöhnung“ von Stadt und Bürgern.

Die Chefin der Wiener Grünen, Judith Pühringer, betonte erneut die rechtlichen Bedenken ihrer Partei gegen eine Wohnsitzauflage: „Der Vorschlag von SPÖ und NEOS ist eine Fehlleistung auf allen Ebenen: Er ist diskriminierend und damit menschenrechtswidrig, er ist grundrechtlich nicht zu Ende gedacht und – zu schlechter Letzt – lenkt er damit auch von der notwendigen Problemlösung ab.“ Ludwig müsse andere Bundesländer als Chef der Landeshauptleutekonferenz bei der Verteilungsfrage endlich in die Pflicht nehmen.

„Integrationspolitik statt Lastenverteilung“

Abseits des politischen Hickhacks stellt sich auch die Frage, ob und wie eine Wohnsitzauflage rechtlich möglich wäre. Das sei schwierig, sagte Barbara Cargnelli-Weichselbaum vom Institut für Staats- und Verwaltungsrecht der Uni Wien. Denn es sei Europarecht, Völkerrecht und innerstaatliches Recht zu berücksichtigen. Es wäre komplex, aber nicht unmöglich. Es dürfe nicht um Lastenverteilung gehen, sondern um Integrationspolitik.

Denn der Europäische Gerichtshof (EuGH) entschied 2016, dass eine Wohnsitzauflage allein aus Gründen der Verteilung sozialer Lasten nicht zulässig sei. Es wären also auch integrationspolitische Gründe zu beachten, etwa ob eine solche Maßnahme im Hinblick auf die Integration in der Gesellschaft sinnvoll sei. Engpässe bei Wohnraum seien zu berücksichtigen, es müsste eine adäquate Versorgung mit Wohnraum sichergestellt werden.

Cargnelli-Weichselbaum: „Es geht natürlich dann auch um die berufliche Eingliederung, zur Verfügung stellen von Sprachkursen“. In Deutschland werde dieses Problem klar gesehen: „Wenn man so eine Regelung schafft, dann muss natürlich auch die entsprechende Infrastruktur gegeben sein, um all diese Maßnahmen hier umsetzen zu können, diese aus integrationspolitischer Sicht notwendigen Maßnahmen.“

Nur Wien erfüllt Quote

Hintergrund der Debatte ist, dass sich die meisten Bundesländer nicht an die Aufnahmequoten halten. Wien nimmt laut jüngsten Zahlen fast doppelt so viele Menschen auf wie es müsste. Vorarlberg erfüllt seine Quote zu 98 Prozent, Burgenland und Steiermark zu 86 bzw. 83 Prozent. Oberösterreich, Salzburg und Kärnten erfüllen die vorgegebene Quote nur zu 60, 58 bzw. 51 Prozent.

Etwas verzerrt wird die Quotenverteilung seit der russischen Aggression in der Ukraine. Ukraine-Flüchtlinge können sich frei bewegen und werden keinem Bundesland zugerechnet. Das ist insofern ein Faktor, als mehr als die Hälfte der Personen in Grundversorgung aus der Ukraine stammt.