Büro der Wiener Interventionsstelle
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Chronik

So viele Gewaltopfer in Beratung wie noch nie

Die Wiener Interventionsstelle gegen Gewalt in der Familie hat im Vorjahr so viele Gewaltopfer beraten wie noch nie. Ursachen für den Rekord werden mehrere vermutet. Die meisten Betretungs- und Annäherungsverbote gab es in Floridsdorf.

Schon 2021 verzeichnete die Interventionsstelle einen Rekord bei den Beratungen. Damals gab es knapp 6.500 Klientinnen und Klienten. Doch 2022 wurde der Rekord erneut gebrochen: Insgesamt 6.758 Personen wurden beraten – in erster Linie Frauen und Kinder. „Es gibt keine eindeutige Erklärung, aber einige Vermutungen“, heißt es zu dem neuerlichen Rekord im kürzlich veröffentlichten Tätigkeitsbericht der Interventionsstelle.

Wiener Interventionsstelle

Die Wiener Interventionsstelle berät bei Gewalt an Frauen, familiärer Gewalt und Stalking. Sie begleitet beispielsweise zu Polizei und Gericht. Die Hilfe ist kostenlos.

Neubaugasse 1/3, 1070 Wien, Terminvereinbarung:
01/585 32 88

Neues Gesetz brachte mehr Fokus auf Opfer

Genannt wird etwa das neue Gewaltschutzgesetz seit 2020. Seit damals gibt es zusätzlich zu Betretungsverboten auch personenbezogene Annäherungsverbote. Das heißt, ein Gefährder darf sich einem Opfer dann im Umkreis von 100 Metern nicht nähern. Ein Betretungsverbot gilt hingegen nur beispielsweise für die Wohnung des Opfers. Es gibt seit damals also einen verstärkten Fokus auf die betroffenen Personen. Auch die Zählweise der Betretungsverbote wurde damals geändert: Statt nach betroffenen Orten wird nun nach betroffenen Personen gezählt.

Relevant ist das alles, weil die Polizei alle Betretungs- und Annäherungsverbote an das jeweilige Gewaltschutzzentrum im Bundesland meldet. In Wien ist das die Interventionsstelle. Die Interventionsstelle kontaktiert dann die Betroffenen und bietet Unterstützung an.

Gewalt könnte gestiegen sein, Tabuisierung gesunken

Ob das die einzige Erklärung sei, wisse man jedoch nicht, so die Interventionsstelle. Es gebe wenig wissenschaftliche Daten dazu. Es könne auch sein, dass immer mehr Betroffene den Mut hätten, über ihre Gewalterfahrungen zu sprechen und sich Hilfe zu holen. „Das gesamtgesellschaftliche Bewusstsein für Gewalt in der Familie könnte gewachsen sein. Dadurch hätte sich die Tabuisierung und auch die Dunkelziffer von häuslicher Gewalt verringert“, heißt es im Tätigkeitsbericht der Interventionsstelle.

Es könnte die Gewalt jedoch auch gestiegen sein, wird gemutmaßt. Oder die Polizei könnte aufgrund von verstärkter Sensibilisierung mehr Betretungs- und Annäherungsverbote ausgesprochen haben, so die Wiener Interventionsstelle.

Die Meldungen der Polizei an die Interventionsstelle sind jedenfalls ebenfalls auf einem Rekordniveau. 2022 gab es 4.693 Meldungen, 2021 waren es etwas mehr als 4.300. Vor dem neuen Gewaltschutzgesetz waren es rund 3.500 im Jahr. Die Polizei meldet neben Betretungs- und Annäherungsverboten auch Stalking-Anzeigen, andere relevante Strafanzeigen und Streitschlichtungen.

Unterschiede zwischen Bezirken

Bei der Zahl der Betretungs- und Annäherungsverbote gibt es teils große Unterschiede zwischen den Bezirken. Insgesamt gab es in Wien im Vorjahr 4.213 derartige Verbote, das heißt knapp 22 pro 10.000 Einwohnerinnen und Einwohner. Die meisten davon gab es, gerechnet auf die Bevölkerung, in Floridsdorf mit 32,6 pro 10.000 Menschen und in der Inneren Stadt mit 29,3. Die wenigsten gab es in den Bezirken Neubau, Alsergrund und Josefstadt, die gemeinsam ein Polizeibezirk sind: Hier wurden 13,7 Verbote pro 10.000 Menschen gezählt.

Rechnungshof kritisiert fehlende Strategie

Gewalt im sozialen Nahraum sei ein besonders sensibler Bereich, sagte die Geschäftsführerin der Interventionsstelle Nicole Krejci. „Das macht es für Betroffene oftmals sehr schwierig, sich an Beratungsstellen zu wenden oder auch die Polizei einzuschalten. Und deshalb ist es unheimlich wichtig, auf niederschwellige Angebote zu setzen“, sagte Krejci im Interview mit Radio Wien. Es brauche aber auch eine präventive und enge Zusammenarbeit zwischen Politik, Opferschutzeinrichtungen und Gesellschaft. Nur so könnten Frauen geschützt werden.

Der Rechnungshof kritisierte in einem aktuellen Bericht, dass Österreich eine „langfristig angelegte, gesamthafte Strategie zum Schutz von Frauen vor Gewalt“ fehle. Zwar gebe es einige positive Maßnahmen wie niederschwellige Beratungen. Allerdings mangle es wie so oft an einheitlichen Regeln, Kriterien und Unterstützungen.