Mehrere Personen, die mit Getränken anstoßen. Nur die Hände sind zu sehen.
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Gesundheit

Nüchtern bleiben ohne Abstinenz

Zehn Prozent der österreichischen Bevölkerung haben einen problematischen Umgang mit Alkohol. Die neu gegründete Wiener Initiative „The Sober Hedonist“ setzt sich für bewussten Alkoholkonsum ein. Heute findet im Cafe Zehnsiebzig das erste Zusammentreffen statt.

Bettina Wittmann und Sophie Haddad sind gerne in Gesellschaft, treffen sich mit Freundinnen und Freunden oder gehen zu beruflichen Netzwerkveranstaltungen. Was ihnen dabei auffällt: Es wird immer Alkohol getrunken. Tue man das nicht, sei man zumeist in der Unterzahl, so Wittmann gegenüber wien.ORF.at. Außerdem sei man oft mit Kommentaren und Fragen des Umfelds diesbezüglich konfrontiert. „Sogar von Kellnern wurde ich teilweise schon blöd angemacht“, erzählte Wittmann. Alkoholkonsum werde in Österreich geradezu verherrlicht.

„Sober Curious“: Neugierig aufs nüchtern Sein

Wittmann setzte sich folglich immer öfter mit dem Thema „Alkohol in der Gesellschaft“ auseinander und schuf schließlich gemeinsam mit Co-Gründerin Haddad die Organisation „The Sober Hedonist“. Diese steht für bewussten Alkoholkonsum ein und soll Gleichgesinnte untereinander vernetzen. Reflexion über den eigenen Alkoholverbrauch und die gesundheitlichen Risiken seien hierbei sehr wichtig.

Extreme jeglicher Art lehne man bei „The Sober Hedonist“ aber ab. Man wolle Personen, die Alkohol trinken, nicht verurteilen oder belehren. Vielmehr sei die Community dafür da, den eigenen Alkoholkonsum zu reflektieren und sich auszutauschen. „Uns ist das bewusste Miteinander wichtig, aber wir wollen niemanden ausschließen“, erzählte die Gründerin.

Auf dem Bild ist ein Getränk zu sehen
The Sober Hedonist
Bei „The Sober Hedonist“ gibt es auch Rezepte für alkoholfreie Cocktails

Unter dem Motto „Sober Curious“ soll eine Plattform geboten werden, mithilfe derer sich Personen, die ihren Alkoholkonsum reduzieren möchten, vernetzen können. „Sober Curious“ ist eine Ende der 2010er Jahren in den USA entstandene Bewegung, die sich für bewussten und eingeschränkten Alkoholkonsum ausspricht.

Mögliche Antworten auf unangenehme Kommentare

Am Mittwoch findet im Cafe Zehnsiebzig die erste Veranstaltung von „The Sober Hedonist“ statt, weitere sollen in Zukunft folgen. Unter anderem sollen diese auch dazu dienen, dass Interessierte Getränke und Cocktails ohne Alkohol kennenlernen. Beispielsweise ist eine Verkostung antialkoholischer Weine für heuer geplant. Die Erkenntnis, dass es in Wiener Bars oft keine antialkoholischen Alternativen abseits süßer Softdrinks gäbe, sei ebenfalls ausschlaggebend für die Gründung der Gemeinschaft gewesen.

„Komm, sei nicht so!“, „Eins geht doch immer“ oder „Bist du schwanger?“ seien typische Sprüche, die man oft zu hören bekomme, wenn man bei Partys und Veranstaltungen nicht trinken wolle, erzählte Wittmann. Beim ersten Treffen der Community soll es deshalb auch einen kleinen Workshop geben, bei dem die Teilnehmenden lernen, wie man auf etwaige negative Kommentare zum Alkoholverzicht reagieren kann. Wichtig sei hierbei zum Beispiel, die Gründe zu reflektieren und klar zu kommunizieren.

Österreich als schwieriges Pflaster zum nüchtern Werden

Laut einer Studie des Gesundheitsministeriums aus dem Jahr 2021 pflegen rund zehn Prozent der österreichischen Bevölkerung einen problematischen Umgang mit Alkohol. Fünf Prozent seien alkoholkrank. Beim „dialog“, Österreichs größter ambulanten Suchthilfeeinrichtung, sind derzeit mehrere 100 Personen in Behandlung, sagte der ärztliche Leiter des Standortes in der Wiener Gudrunstraße, Paul Becvar.

Die Weltgesundheitsorganisation empfiehlt Männern maximal 20 Gramm, Frauen 10 Gramm Reinalkohol am Tag. „Das entspricht noch keiner Diagnose“, so Becvar. Steige diese Konsummenge an oder kämen psychische und körperliche Folgeerscheinungen hinzu, würde man jedoch von einem schädlichen Gebrauch sprechen. Abhängig sei man, wenn es unter anderem zu einer Toleranzentwicklung komme, man ein starkes Verlangen nach Alkohol habe und beim Nicht-Konsumieren Entzugserscheinungen bekomme.

Auch im internationalen Vergleich liegt Österreich beim Alkoholkonsum weit vorne. Mehr Pro‐Kopf‐Konsum hätten 2019 nur Litauen, Tschechien und Lettland gehabt, so die zuvor erwähnte Studie. Laut Versorgungsbilanzen der Statistik Austria liegt der Pro-Kopf-Verbrauch bei Bier beispielsweise bei 106,7 Liter.

Mann trinkt in Bar
APA/DPA/Klaus-Dietmar Gabbert
Oft wird man zum Trinken überredet, „The Sober Hedonist“ trainiert Abwehrstrategien

Keine Konkurrenz zu Suchthilfezentren

Die Gründerinnen von „The Sober Hedonist“ kritisieren, dass es in Österreich oft einen Druck zum Trinken gäbe. Auch Becvar beobachte, dass Alkohol für viele einen oft identitätsstiftenden Stellenwert habe und Zugehörigkeitsgefühl schaffe. Für viele Menschen könnten Initiativen wie „The Sober Hedonist“ durchaus hilfreich sein, nach dem Motto: „Was auch immer hilft.“

Bei Alkoholabhängigen müsse man aber eher vorsichtig sein. Doch auch hier könnten solche Gemeinschaften helfen. Das sei aber sehr individuell, so der Suchtexperte. Seitens „The Sober Hedonist“ wird betont, dass man keine Konkurrenz für Suchthilfezentren darstellen wolle. Dennoch sei man sich der Verantwortung bewusst, dass man für manche Menschen unter Umständen der erste Kontakt mit dem nüchtern Werden sei. Bettina Wittmann absolvierte deshalb auch Weiterbildungen im Bereich Sucht und Gesprächsführung mit konsumierenden Personen bei „dialog“.