Der Mathematiker und Simulationsexperte Nikolas „Niki“ Popper bei einem APA-Interview
APA/Herbert Neubauer
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WISSENSCHAFT

Popper: „Welt nicht mehr zu verstehen“

Ende Jänner hat ORF Wien über Computermodelle der TU zum Coronavirus berichtet. Nun sind die Experten um Niki Popper sehr gefragt. „Wir bekommen derzeit alle vor Augen geführt, dass wir die Welt eigentlich nicht mehr verstehen“, so Popper.

Schon Ende Jänner berichtete ORF-Wien über eine Expertengruppe um Niki Popper an der Technischen Universität (TU) Wien, die mit ihren Computermodellen berechnet, wie sich das Virus im Falle des Falles hierzulande ausbreiten könnte und wie sich eine mögliche Epidemie verhindern ließe. Nun sind die Simulationen des 46-jährigen Wieners über die Ausbreitung des Virus und die Wirksamkeit von Maßnahmen nicht nur im Expertengremium der Regierung gefragt, sondern ermöglichen auch der Bevölkerung eine Einschätzung.

„Wir bekommen derzeit alle vor Augen geführt, dass wir die Welt eigentlich nicht mehr verstehen“, sagte Popper in einem APA-Interview. Das passiere schon immer, nur sei der Effekt sonst viel niedriger: Menschen würden subjektiv Sachverhalte systematisch unter- oder überschätzen, auch Forscher seien davor keineswegs gefeit – er selbst inklusive. Die Herausforderung für den gefragten Mathematiker und Unternehmer ist es nun, Dinge möglichst verständlich zu erklären. Etwa darzustellen, warum beispielsweise ein prozentuell etwas niedrigerer Anstieg trotz Rekordzuwächsen an neu nachgewiesenen Corona-Fällen positiv ist.

Der Mathematiker und Simulationsexperte Nikolas „Niki“ Popper vor einem Bildschirm
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Die Simulationen des Teams um Niki Popper sind derzeit sehr gefragt

Grundsätzlicher Ansatz seit 15 Jahren

An dem grundsätzlichen Ansatz der Simulation, mit deren Hilfe mittlerweile der Wiener Krankenanstaltenverbund KAV und sein niederösterreichisches Pendant sowie das Gesundheitsministerium nach Antworten auf drängende Fragen zur Ressourcenplanung in der Coronakrise suchen, arbeiten der Wissenschafter und sein Team seit nunmehr fast 15 Jahren. Im Zentrum steht dabei „die Modellierung und Simulation von unterschiedlichen dynamischen Systemen mit vielen verschiedenen Baustellen“, wie Popper es ausdrückt. Auf diese wirken nämlich eine Unzahl an Einflussfaktoren auf mitunter sehr unübersichtliche Art und Weise ein.

Der Fokus im Rahmen des mit einigen andere Partnerorganisationen betriebenen „DEXHELPP“-Forschungsverbundes liegt seit rund einem Jahrzehnt auf dem österreichischen Gesundheitssystem und seinen „sehr vielen Rädchen“. So begann man etwa die Auswirkungen von Impfkampagnen und eben Epidemien abzuschätzen und zu bewerten oder an Fragen zum Ärztemangel, zur Geräteausstattung oder zur Schlaganfall- oder Diabetesversorgung zu arbeiten.

Zuerst bilden die Forscher dabei immer den Status-quo anhand der vorhandenen Daten so gut wie möglich ab, „dann setzen wir eine Intervention“ – es wird also eine Veränderung durchgespielt und deren Konsequenzen virtuell im gesamten Gesundheitssystem nachverfolgt. Der Corona-Ausbruch ist hingegen „leider ein Realexperiment und eine sehr ungewöhnliche Situation“, so der Forscher, der auch dem Expertengremium der Regierung angehört.

Abbild der Bevölkerung

Der Grundgedanke der Simulation ist es, im Computer eine Art Abbild der Bevölkerung Österreichs oder eines Bundeslandes zu erschaffen, in dem sich die virtuellen Personen möglichst ähnlich verhalten, wie das auch in der Realität der Fall ist. „In unser Modell fließen viele Zahlen ein, wir sitzen aber immer auf den Schultern derer, die diese erheben, wie etwa Virologen, Infektiologen oder Statistiker, etc.“, betonte Popper den fachübergreifenden Aspekt dieses Ansatzes.

Im Endeffekt kann dann anhand dieses Kontaktnetzwerks nachvollzogen werden, wie die Agenten das Coronavirus untereinander weitergeben. Und mehr noch: Man kann etwa alle Schulen des Landes sperren und abschätzen, wie die sozialen Interaktionen in etwa zurückgehen, bevor noch eine einzige Bildungseinrichtung tatsächlich die Pforten schließt. Hier zeigte sich beispielsweise, dass rund zehn Prozent aller persönlichen Kontakte in der Gesellschaft nicht mehr stattfinden – mit entsprechend großen Auswirkungen auf die durchschnittliche Weitergabe des Virus.

Die Verbreitung des Virus

Christoph Wenisch, der Leiter der Infektionsabteilung am Kaiser-Franz-Josef Spital in Wien und Simulationsexperte Niki Popper erklären, wie sich das Coronavirus verbreitet und warum die von der Regierung angeordneten Maßnahmen unbedingt eingehalten werden sollen.

Dunkelziffer schwer zu fassen

Aktuell beschäftigt sich das Team vor allem damit, wie stark sich Interaktionen durch die gesetzten Maßnahmen zur sozialen Distanzierung tatsächlich reduziert haben. Hier sind etwa anonymisierte Daten zur Handynutzung aufschlussreich, so der Experte. Auch Fragen zu Vorerkrankungen bei Über-65-Jährigen und wie verschieden diese abhängig davon auf das neue Virus reagieren, treiben das Team an. Hier wolle man nun eine detaillierte Risikoabschätzung erstellen, die Datenlage sei aber bei weitem nicht ideal.

Ähnlich ist es mit der schwer zu fassenden Dunkelziffer, also jenen eigentlich Infizierten, die nur sehr leichte oder gar keine Symptome entwickeln. Das Modell erlaube aber etwa gewisse Schlüsse darauf in der Rückschau. Ebenso ist das bei der geschätzten Anzahl der Personen, die eine infizierte Person im Schnitt ansteckt.

Seit sich die Wissenschafter mit der Simulation der Ausbreitung des Coronavirus beschäftigen, hat sich selbige „total verändert“, sagte Popper. Neben neuen Fallzahlen kommen nahezu täglich auch neue wissenschaftliche Erkenntnisse dazu.

„Herumlavieren nicht schlau“

Alles in allem dient das Modell als Entscheidungsunterstützung beispielsweise im Umgang mit Restriktionen. Popper: „Wenn mich jemand fragt, wie viele Erkrankte wir am 13. April haben, kann ich das nicht beantworten. Auf die Frage ‚Kann ich vergleichen, wie sich Maßnahmen auswirken?‘, sage ich: Man kann es abschätzen.“

In dem nunmehrigen Realexperiment mit den bereits gesetzten Maßnahmen gelte insgesamt die Annahme: „Je mehr sich jetzt daran halten, umso schneller sehen wir einen positiven Effekt und umso schneller kommen wir heraus.“ Relativ klar ist laut Popper, dass ein Herumlavieren zwischen relativ restriktiven Maßnahmen und der über längere Zeit etwa in Großbritannien verfolgten Strategie mit wenigen Einschränkungen, „nicht schlau wäre. Da kommt aus rein mathematischer Sicht voraussichtlich der maximale Schaden heraus“.

Mathematiker und Saxophonist

Niki Popper inskribierte 1993 Technische Mathematik an der TU Wien und nahm auch noch Philosophie und Jazztheorie dazu. Letztere Fächer blieben auf der Strecke, auch wenn er noch Saxophon spielt. Der Mathematik aber blieb er treu und erhielt 2015 seinen PhD für eine Arbeit zu „Comparative Modelling & Simulation“.

Der späte PhD krönte jahrelange berufliche Erfahrung, bei der er seine mathematischen Kenntnisse anwenden konnte. Ab 1999 war er als Daten- und Wissenschaftsjournalist beim ORF tätig. Als Bindeglied zwischen TV-Nachrichtensendungen und der Grafikabteilung visualisierte er etwa Ereignisse wie die Papstwahl oder die Kaprun-Katastrophe in 3D-Modellen. Schließlich schlug er den Weg in die Selbstständigkeit ein, mit TV-Produktionstätigkeiten etwa. für Sendungen wie „Nano“, „Kulturzeit“ oder „Newton“.

2010 hatte er gemeinsam mit dem Mechatroniker Michael Landsiedl unter anderem dafür die dwh GmbH in Wien-Neubau gegründet. dwh steht für Drahtwarenhandlung, die Abkürzung wurde für die Forschungsfirma gewählt, weil bei internationalen Konferenzen niemand Drahtwarenhandlung aussprechen konnte.

International gefragter Forscher

Popper hat bisher rund 150 Artikel und Vorträge in Fachzeitschriften und bei internationalen Konferenzen veröffentlicht bzw. präsentiert und zahlreiche Forschungsprojekte initiiert und koordiniert. Er ist Koordinator des interfakultären Zentrums „Computational Complex Systems“ der TU Wien, hat dort das Master College für angewandte Modellierung, Simulation und Entscheidungsfindung mitentwickelt und forscht auch an der Privaten Universität für Gesundheitswissenschaften UMIT in Tirol.

Zudem ist er Vorsitzender der Forschungsplattform DEXHELPP, einem ausgelaufenen COMET K-Projekt, die sich mit der effizienten und sicheren Nutzung von Daten für die Entscheidungsfindung in Gesundheitssystemen beschäftigt – also genau jenem Thema, mit dem er nun in der Coronakrise seine Expertise einbringt.

Angesichts der derzeit vielen Medienanfragen und TV-Auftritte sei er den vielen Menschen in seinem Umfeld „sehr dankbar“, die ihm u.a. den Rat geben: „Pack dein Ego wieder ein.“ Für die gesamte Forschungscommunity freue es ihn, „dass jetzt hoffentlich verstanden wird, dass uns diese Simulationswerkzeuge dabei helfen können, mit solchen Fragestellung auch in ‚normalen‘ Zeiten umzugehen“.