Chronik

Kritik nach Haft für Demenzkranke

Der Fall einer demenzkranken 93-Jährigen, die in Wien nach einem Angriff auf ihre Pflegerin in Haft gekommen ist, sorgt für Kritik. Das Justizministerium verteidigt die Maßnahme.

Der Erwachsenenschutzverein Vertretungsnetz fordert, Menschen mit demenzieller Erkrankung oder intellektueller Beeinträchtigung von einer Unterbringung im Maßnahmenvollzug auszunehmen. Dieser sei „ein komplett falsches Setting für diese Personengruppe“, sagte Martin Marlovits, stellvertretender Fachbereichsleiter Erwachsenenvertretung, am Montag.

„Kein herkömmliches Gefängnis“

Das Justizministerium betonte am Montag in einer Stellungnahme, die hochbetagte und demente Frau sei nicht in einem herkömmlichen Gefängnis, sondern in einer spezialisierten Haftanstalt untergebracht gewesen. Die Außenstelle Wilhelmshöhe, die der Justizanstalt Josefstadt angegliedert ist, verfüge über „Kompetenzen in den Bereichen Pflege und Alter“ und sei „als Sonderkrankenanstalt definiert, eine entsprechende medizinische Versorgung und der individuelle Pflegebedarf sind daher jedenfalls gegeben“, hieß es in dem Statement.

Zweck der Unterbringung sei die Behandlung und „Besserung“ im Sinne eines Abbaus der Gefährlichkeit, hatte zuvor Marlovits vom Erwachsenenschutzverein Vertretungsnetz betont. „Diese Menschen aber verstehen oft nicht einmal, warum sie untergebracht sind und können die geforderte Compliance nicht leisten“, gab Marlovits zu bedenken. „Damit haben sie keinerlei Perspektive auf Entlassung oder auch nur auf Lockerungen, was wiederum zu extrem langen Unterbringungszeiten führt.“

Zurechnungsunfähig: Zahl hat sich verdreifacht

Es sei bedauerlich, dass das erst kürzlich beschlossene Gesetz zur Reform des Maßnahmenvollzugs keine Ausnahmeregelung vorsieht. Es stelle „im Gegenteil fest, dass der Kreis der Betroffenen unverändert bleiben soll“. Das Vertretungsnetz vertritt seit vielen Jahren als gerichtlicher Erwachsenenvertreter Personen, die im Maßnahmenvollzug untergebracht sind und aufgrund ihrer psychischen Erkrankung als zurechnungsunfähig gelten.

„Ihre Zahl hat sich in den letzten 20 Jahren mehr als verdreifacht. Wir vertreten auch einige Menschen, die eine intellektuelle Beeinträchtigung haben oder demenziell erkrankt sind und die z.B. nach aggressiven Vorfällen in Pflegeeinrichtungen eingewiesen wurden“, berichtete der Verein am Montag.

Pflegerin für Einbrecherin gehalten

Die demenzkranke 93-Jährige war am 27. März in ihrer Wohnung in Wien-Wieden krankheitsbedingt auf ihre 24-Stunden-Pflegerin losgegangen, weil sie die Frau für eine Einbrecherin gehalten hatte. Die Pflegerin blieb unverletzt, die Seniorin wurde zunächst auf der psychiatrischen Abteilung der Klinik Landstraße stationär aufgenommen – mehr dazu in „93-jährige Demenzkranke kam ins Gefängnis“ (wien.ORF.at; 23.4.2023).

Dann aber habe ein Haft- und Rechtsschutzrichter „völlig falsch“ entschieden, so Michael Dohr, der Rechtsvertreter der Hochbetagten, nämlich auf eine vorläufige Unterbringung in einem forensisch-therapeutischen Zentrum. Die Frau kam in die Sonderanstalt Wilhelmshöhe, die auf betagte Häftlinge ausgerichtet ist.

Strafverfahren eingestellt

Die 93-Jährige, die seit sechs Jahren an schwerer Demenz leide, blieb dort mehr als zwei Wochen, sei völlig desorientiert gewesen und habe Panikattacken erlitten. Das Strafverfahren gegen die Frau wurde laut dem Anwalt inzwischen eingestellt.